Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
fahren, ohne sie für alle Fälle einzuladen. » Tut mir leid«, sagt sie. » Ich muss.«
» Nein, du musst nicht«, entgegnet er. » Nein. Die wissen, dass du Urlaub hast. Wieso bist du überhaupt ans Telefon gegangen?«
Sie entscheidet sich für die bequeme Tour und spielt den Ball zurück. » Du warst es, der gesagt hat, ich soll drangehen. Und überhaupt, du gehst immer ans Telefon.«
» Das ist etwas anderes«, beginnt er. » Meine Mutter–«
Er fängt ihren Blick auf und verstummt. Im Lauf einer Ehe lernt man, dass es Themen gibt, die man besser nicht anschneidet. Kirstys familiäre Ungebundenheit ist eines davon. Sie reagiert ausgesprochen empfindlich, wenn Menschen, die aus einer liebevollen Familie stammen, unterstellen, dass Leute mit ungünstigem Familienhintergrund keine emotionale Bindung haben. Er weiß noch genau, wie heftig sie reagiert hat, als er etwas wie » Für dich ist ja alles in Ordnung!« sagte. Im Zweifelsfall redet sie dann einfach nicht mehr mit ihm. Deshalb schluckt er seine Worte hinunter, als er hört, dass sie scharf Luft holt.
» Entschuldigung«, sagt er.
» Schon gut«, erwidert sie schließlich. Er fragt sich, ob sie seine Unvorsichtigkeit als Waffe benutzen wird. Glaubt, dass er es wahrscheinlich verdient. » Tut mir leid, dass ich keine Mutter habe, um die ich mir Sorgen machen könnte«, fügt sie hinzu. » Aber komischerweise sorge ich mich um deine.«
Der Ball ist wieder bei ihm. » So sehr, dass du dich verkrümelst, statt morgen mit zu ihr zu kommen«, sagt er. » Sie freut sich schon so lange auf unseren Besuch, wie du weißt.«
» Und ich habe es dir erklärt. Ich komme nach, so schnell ich kann. Ich habe einfach einen Auftrag bekommen, Jim. Und ich habe nun mal keine festen Arbeitszeiten, keinen Urlaub, keine Rente. Alles was ich habe, ist meine Bereitschaft, mich anzupassen. Im Augenblick ist es echt hart für mich. Überall werden Leute abgebaut, weißt du. Wir brauchen das Geld. Ich kann es mir nicht leisten, Aufträge abzulehnen.«
Himmel, das glaube ich womöglich gleich noch selbst, denkt sie. » Außerdem hast du deinen Job noch nicht in der Tasche«, fügt sie scharf hinzu und sieht, wie er zurückzuckt, als hätte sie ihn geohrfeigt. Ach Gott, ach du lieber Gott. All die Mühe, die Vorsicht, dieses Problem nicht anzusprechen, sein Selbstvertrauen nicht zu untergraben, ihn nicht dazu zu veranlassen, sich wegen seiner Arbeitslosigkeit entmannt vorzukommen– alles mit einem einzigen Satz zunichte gemacht. Wir werden Monate brauchen, um uns davon zu erholen. Monate. Und er wird nie erfahren, dass ich es tat, um ihn zu schützen.
Er schweigt einen Moment. Dann sagt er: » Ich halte das nicht mehr lange aus.«
Kirsty knallt die Wagentür zu und dreht sich zu ihm um. » Was nicht mehr lange, Jim? Was denn? Du wirkst nicht gerade verstimmt, wenn die Leute erzählen, sie hätten meine Artikel in der Zeitung gelesen. Und du hast auch nichts dagegen, bei Essenseinladungen mit deinem Insiderwissen anzugeben, oder etwa nicht?«
In einem der Fenster in der Nachbarschaft geht ein Licht an. » Pssst!«, zischt Jim. » Sei gefälligst leise!«
Sie hat den Streit vom Zaun gebrochen, um ihm nicht erzählen zu müssen, warum sie wegfährt. Bleibt hartnäckig. Jim kann es nicht ausstehen, wenn die Nachbarn ihre Privatangelegenheiten mitkriegen. Er würde lieber in der Küche verbluten, als mit einem Messer im Bauch hinauszulaufen und dadurch unangenehm aufzufallen.
» Was?«, wiederholt sie aggressiv.
» Die Nachbarn«, sagt er.
» Dann gehen wir eben rein!«
Er weiß, dass es aussichtslos ist. Sie wird sich nichts ausreden lassen. Er kann immer noch nicht glauben, dass sie nachts um zwei einen Anruf bekommt, sich einfach anzieht und zum Wagen geht. Allerdings kennt er sie lange genug, um zu wissen, wann debattieren zwecklos ist. Er weiß ebenfalls, dass sie ihm nicht die ganze Geschichte erzählt. Er hat es im Lauf ihrer Beziehung immer wieder erlebt, diese Art, wie ihr Blick glasig wird und ihr Kiefer sich spannt, sobald bestimmte Themen zur Sprache kommen. Sie ist eine verdammt Auster, denkt er. Und kann so eine Zicke sein, wenn sie einem Thema aus dem Weg gehen will. Und ich, ich bin so nachgiebig, dass ich es ihr einfach durchgehen lasse, nur um sie nicht zu quälen. Dabei weiß jeder, dass man manchmal in eine Wunde stechen muss, damit sie heilt. Ich muss mich ändern. Sowie ich einen Job habe und das Gleichgewicht wieder hergestellt ist, muss ich härter
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