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Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)

Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)

Titel: Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Marwood
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länger, wieder aufzustehen.
    » Du solltest dieses Ding ausziehen«, sagt sie und zupft an den Bändern des Anoraks. » Du musst ja kochen.«
    Chloe ist phlegmatisch und reagiert nicht. Anscheinend ist ihr sogar der Wille zum Weinen abhandengekommen. Auch als sie sich zwei Wiesen zuvor an Stacheldraht das Schienbein aufgeritzt hat, hat sie nur einen dumpfen Schmerzenslaut von sich gegeben. Nur noch ein Feld, dann sind wir am Fluss, denkt Jade. Sehr gut. Ich weiß nicht, was ich mit ihr anstellen soll. Ich glaube, sie wird krank.
    Sie hat ernsthafte Zweifel, dass sie Debbie tatsächlich dort finden werden, aber jetzt sind sie schon so weit gekommen, und außerdem kommt ihr als Hilfe in dieser vertrackten Situation nichts Besseres in den Sinn als das Kreischen und Herumplanschen, das jeden Nachmittag am Evenlode stattfindet. Zusammen mit Bel öffnet sie den Reißverschluss, und sie schälen das passive Kind aus dem Anorak. Die dünnen weißen Ärmchen sind mit Blutergüssen übersät, das hautenge Rippenhemd ist voller Schweißflecke. Erstmals sehen sie, dass sie glänzendes goldblondes Haar hat, die Locken kleben an ihrem Schädel wie bei einem Persianermantel. Sie schwankt leicht, ihre Augen blicken scheinbar ins Nichts. Sie schnappt Jade die Jacke weg und drückt sie sich gegen die Brust wie einen Teddybär.
    » Komm schon«, sagt Jade in sanfterem Ton, als sie ihn den ganzen Nachmittag über angeschlagen hat. » Siehst du, da drüben?«
    Sie deutet auf eine Linie im Gras, die aus den Wäldern rechts von ihnen hervortritt und sich durch die hitzeversengten Weiden zieht. » Siehst du das? Das ist der Bach. Wenn wir da sind, können wir planschen und was trinken. Und dich ein bisschen abkühlen. Und dann müssen wir den nur noch entlanggehen, bis wir zum Fluss kommen.«
    Ohne großes Interesse sieht Chloe hin. » Komm«, sagt Jade. Sie stellt einen Fuß auf die unterste Querstrebe des Gatters und packt die oberste, um ihr vorzumachen, wie es geht.
    » Ich weiß nicht …«, meint Bel.
    » Stell dich nicht so an«, entgegnet Jade. » Ich bin schon mit drei über Gatter geklettert.«
    Sie ist sich des Wahrheitsgehalts dieser Behauptung nicht ganz sicher, aber sie tut es nun schon seit Jahren, und auf jeden Fall ist über Gatter zu klettern keine Hexerei. Außerdem sieht sie keine andere Möglichkeit durchzukommen, ohne es aufzubrechen. Sie erklimmt das Gatter wie eine Leiter und schwingt ihr Bein darüber, als bestiege sie ein Pferd. Sitzt rittlings darauf und sieht auf die andern beiden hinunter. » Kinderleicht«, sagt sie, schwingt auch das andere Bein hinüber und springt auf den Boden. Chloe starrt sie mit halb geöffnetem Mund an.
    » Los«, fordert Jade auf. » Gib ihr eine Hand.«
    Bel schiebt die Kleine vor sich her. Ihre Füße scheinen aus Beton zu sein. Sie schleifen über die Erde und bleiben hängen, als wären sie zu schwer für ihre Beine. Bel kniet sich hin und hebt einen von Chloes Füßen auf die unterste Strebe. Dann versucht sie, die Hände des Kindes drei Streben weiter oben zu befestigen, aber Chloe weigert sich, ihren Anorak loszulassen. Nach mehreren Versuchen nimmt Bel einen Arm, schiebt ihn durch die Streben und hakt ihn ein. » Siehst du?«, sagt sie. » Wie bei einer Leiter.«
    Chloe steht einfach nur da. Presst ihr Gesicht in den Anorak und atmet tief ein, um sich zu trösten. Glotzt Jade an, als sei sie im Zoo.
    Am Ende legt Bel ihre Hand unter Chloes Hintern und hievt sie hoch. Das Bein auf der Strebe versteift sich widerwillig, das andere baumelt in der Luft. Das Kind kippelt. Schaut verängstigt drein. Sagt kein Wort. Sie hat nichts mehr gesagt, seit sie durch den Sauerampfer am Rand der vierzig Hektar großen Wiese gewatet sind.
    » Alles in Ordnung. Mach weiter. Stell den andern auf die nächste Strebe. Du kannst das.«
    Bel steht auf, stemmt ihren Körpern gegen Chloe und stützt ihr volles Gewicht ab. Meine Güte, denkt sie. Vorhin habe ich gemeint, sie wäre schwer, aber jetzt ist sie der reinste Sandsack. Sie nimmt die Hand mit dem Anorak und legt sie oben aufs Gatter. Es ist ein schwacher Griff, weil sich das Kind den Ellbogen gegen die Rippen presst, um nur ja das heilige Kleidungsstück nicht loszulassen. » Gleich haben wir’s«, sagt Bel. » Fast geschafft.«
    Es dauert eine Ewigkeit, Chloe hinaufzumanövrieren. Aber irgendwann ist ihr Schritt auf einer Höhe mit der obersten Strebe, in der Hüfte eiert und kippelt sie hin und her. » Heb dein Bein«, sagt Jade. » Los.

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