Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
das Törchen hinter sich und läuft humpelnd die kurze Treppe zum Pier hinauf. Sie späht in die Dunkelheit, die vor ihr liegt, und macht sich auf den Weg bis zum Ende des Stegs.
Wieder einmal spürt er das Pochen einer Erektion. Sie füllt sich mit Blut, während er beobachtet, wie sie auf den Kieseln ausrutscht, wieder auf die Beine kommt und sich unter dem Pier vorantastet. Da ist er wirklich einer großen Sache auf der Spur. Wie immer es ausgeht – er kann dabei nur gewinnen. Entweder versteckt sich Amber Gordon irgendwo da draußen in der Dunkelheit, und Kirsty Lindsay will sie dort ausfindig machen, oder sie ist nicht da, und dann wird Lindsay ganz allein dort oben sein.
Er hört, wie ein Tor geöffnet wird, und Tritte, die eine Metalltreppe hinaufgehen. Sie hat den Personaleingang gefunden und ist auf dem Weg zum Bohlenweg auf dem Pier. Martin lächelt. Perfekt, denkt er. Hier kann ich sie nicht verlieren. Es gibt nur einen einzigen Weg aufs Pier und nur einen einzigen wieder hinaus.
Die kleine nachgebildete Dampfbahn, die mit ihren fünfzig PS von acht Uhr morgens bis zu dem Zeitpunkt, da die letzten Kunden aus der Vergnügungshalle verschwinden, zwischen Eingang und Ende des Piers hin und her zockelt, steht in ihrem Schuppen, dessen Türen mit einer aufwendigen Konstruktion aus Kette und Vorhängeschloss gesichert sind. Bis ans Pierende sind es gut dreihundertfünfzig Meter. Unter normalen Umständen ein gemütlicher Spaziergang, allerdings weniger, wenn die Bohlen vom stärker gewordenen Nieselregen glitschig sind und man nicht weiß, was einen am Ziel erwartet. Sie könnte nicht einmal mehr da sein. Ist vielleicht schon abgehauen und hat ein neues Versteck gefunden, in dem sie jetzt auf deinen Anruf wartet.
Los, Kirsty, sagt sie sich. Reiß dich zusammen! Das geht ratzfatz, und wenn du sie erst mal in Sicherheit gebracht hast, bist du es auch. Und du wirst sie nie wieder sehen, mit ihr sprechen und an sie denken müssen.
Sie schlingt sich ihren Schal fest um den Kopf und stapft los. Erst August, denkt sie, als sie weiter hinaus kommt, und die Luft ist schon so nasskalt wie in einem Weinkeller.
Dumpf hört sie in der Nachtluft ihre eigenen Schritte. Ihre Nase läuft. Was tu ich hier bloß, fragt sie sich. Das ist das Dämlichste, was ich jemals gemacht habe. Und korrigiert sich: das Zweitdämlichste. Aber in diesem Fall habe ich keine andere Wahl. Weil es schließlich nicht nur um mich geht. Verdammt, wie ich sie jetzt hasse. Davor habe ich sie bedauert und dachte, wir hätten etwas gemeinsam, könnten einander irgendwie verstehen, aber jetzt hasse ich sie. Vielleicht sollte ich in die Stadt zurückkehren und diesen Zombies dort sagen, wo sie ist. Wenn sie tot ist, kann sie jedenfalls nicht reden. Wenn ich sie sterben lasse, sind meine Probleme gelöst…
Sie schüttelt den Kopf und versucht, den Gedanken wieder loszuwerden. So bin ich nicht, so gern ich es auch wäre.
Die Bahnstrecke ist von kleinen, unsinnigen Haltestellenhäuschen aus weiß lackiertem Eisen mit Scheiben aus Gewächshausglas gesäumt. Wie alles hier ist auch der Pier ein Relikt aus eleganteren Zeiten, als Auslandsreisen den Reichen und ihren Dienstboten vorbehalten waren, und Rechtsanwälte und Ärzte herkamen, um sich unter den ortsansässigen Krämern und Fleischern zu verlustieren. Heute sind die eleganten Linien der Geländer hinter aufdringlichen Werbebannern versteckt. Schwaches Mondlicht dringt durch eine Wolkenlücke, und sie sieht, dass die Hälfte der Fenster in den Haltestellenhäuschen kaputt sind. Ein Windstoß treibt ihr Regentropfen ins Gesicht. Das Wetter wird schlechter.
Hinter sich hört sie den Klang von Metall auf Metall. Das Tor?
Er wartet fünf Minuten– stoppt die Zeit mit seiner Armbanduhr–, bevor er ihr durch das Törchen folgt. Nicht nötig, ihr dicht auf den Fersen zu bleiben. Er weiß ja, wohin sie geht. Er kauert unterhalb der Wand und sieht ihren Kopf, der sich silhouettenhaft über den Geländern oben an der Treppe abzeichnet, sie dreht nach links ab und geht weiter in Richtung Meer hinaus. Dann ist sie verschwunden, und jedes Geräusch wird vom Getöse der Wellen verschluckt.
Er riskiert es und kriecht wie ein Krebs in den Schutz des Piers. Jetzt kann sie ihn unmöglich sehen. Er ist in Sicherheit, gut versteckt, und sie hat nicht die geringste Ahnung, dass er sie verfolgt. Er verspürt den plötzlichen Drang, laut zu lachen. Schiebt sich vor und rutscht ans Tor und versetzt ihm einen Stoß.
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