Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
weiß, dass Amber die Wahrheit gesagt hat, will dieser Frau aber nicht in die Nähe kommen. Sie nicht ansehen müssen.
» Wie war deine Fahrt?«, erkundigt sich Amber unvermittelt im Plauderton, als wäre Kirsty lediglich zum Brunch gekommen.
» Ganz gut.« Kirsty ist verblüfft über ihren eigenen Konversationston, den sie im Gegenzug anschlägt. » Um diese Uhrzeit sind die Straßen natürlich frei.«
» Stimmt. Wir– Vic und ich– sind immer um diese Zeit aufgebrochen, wenn wir nach Wales gefahren sind. Er hat immer gesagt, dass man den Weg dann in gut der Hälfte der Zeit schaffen kann.«
» Stimmt«, erwidert Kirsty. Sie braucht ein paar Sekunden, bevor ihr einfällt, dass der Vic, den Amber so beiläufig erwähnt, derselbe Mann ist, dem sie und ihre Kollegen den Titel » der mutmaßliche Strandwürger Victor Cantrell« gegeben haben (wobei das » mutmaßlich« nach der Verurteilung natürlich wegfällt). Auch Amber wird sich der Wirklichkeit wieder bewusst, und ihr Gesicht wird traurig. Sie benimmt sich wie meine Schwiegermutter, denkt Kirsty, nachdem Jims Vater gestorben war, und es ihr noch nicht richtig ins Bewusstsein gedrungen war. Da hat sie über Dinge geredet, die sie gemeinsam unternehmen wollten, Standpunkte, die er vertrat, Dinge, die er sagte, und dann fiel ihr Gesicht auf die gleiche Art und Weise in sich zusammen, und im Raum herrschte Hilflosigkeit. Es dauerte einige Jahre, bis sie oder jemand anders in ihrer Gegenwart seinen Namen erwähnen konnte, ohne dass die Trauer förmlich über ihren Köpfen zusammenschlug.
So muss es Amber gehen, überlegt sie. Der gleiche Verlust, nur ohne das Mitgefühl. Der Status einer Witwe ist im Grunde etwas Nobles; einen derartigen Trost gibt es für die Angehörigen eines Verbrechers jedoch nicht. Ich war so damit beschäftigt, all diese Jahre in Exmouth um mich selbst zu weinen, dass ich nie an meine Familie gedacht habe. Erst seit Sophie und Luke auf der Welt sind, kann ich mir vorstellen, wie es wirklich für sie gewesen sein muss.
» Was war denn in Wales?«, fragt sie.
Amber seufzt. » Ach, nichts, eigentlich. Wir sind da manchmal hingefahren. Außerhalb der Saison. An die Küste von Pembrokeshire. Er– Vic– war da früher mal mit so einer Maßnahme für bedürftige Kinder. Es hat ihm gefallen. Er ist immer gern dorthin zurückgekehrt.«
» Ja, es ist wirklich wunderschön«, meint Kirsty.
» Warst du mal da?«
Sie betreiben Konversation, weil ihnen unbehaglich ist; der Small Talk ist unentbehrlich, um die Kluft zwischen ihnen zu überbrücken. Total abartig, denkt Kirsty. Wir unterhalten uns hier wie Fremde im Bus. Komm schon, Regen, hör endlich auf, verdammt noch mal! Ich will nicht hier sein und das machen.
» Jims Großeltern sind nach der Pensionierung nach Saundersfoot gezogen. Er hat eine Menge schöner Erinnerungen daran.«
» Jim…? Ach ja, dein Mann«, sagt Amber fahrig.
Kirsty besinnt sich erneut der Umstände, die sie hierhergeführt haben. » Ja«, sagt sie spitz. » Mein Mann.«
» Was macht er noch mal, hast du gesagt?« Kirsty hört in dieser Frage das Echo von Bels alberner, konventioneller Mutter. Pausenlos reden, um bloß keine Intimität aufkommen zu lassen, das hat sie ihrer Tochter beigebracht, sie jedoch nie geliebt.
» Es spielt keine Rolle, was er macht«, entgegnet sie ungeduldig. » Das hat nichts mit dir zu tun. Aber wenn du Fragen stellst, stelle ich auch eine. Hast du es ernst gemeint?«
» Was?«
Amber sieht den Ausdruck in ihrem Blick und versteht. » Oh. Meine Drohung. Willst du eine ehrliche Antwort?«
» Ja. Wenn du mir eine geben kannst.«
» Gut. Dann– ich weiß es nicht. Tut mir leid. Vermutlich nicht. Ich glaube nicht, dass ich etwas davon gehabt hätte, es durchzuziehen, oder?«
Kirsty hört nicht richtig zu; sie will eigentlich gar nicht hören, was ihre Erpresserin ihr zu sagen hat, sondern ihr vielmehr die Meinung sagen. » Das hat Jim nicht verdient. Ich kann nicht fassen, dass du das tun wolltest. Und meine Kinder auch nicht. Was haben sie dir je getan?«
Amber atmet tief ein. » Nichts.«
» Also, was dann? War es Rache an mir? Wolltest du wegen dem, was dein Mann gemacht hat, meinen zerstören?«
» Es tut mir leid«, sagt Amber noch einmal. » Wirklich. Entschuldige, dass ich dir das angetan habe, aber ich war–«
» Oh, um mich mache ich mir keinen Kopf«, unterbricht Kirsty sie.
Amber schaut skeptisch drein. » Klar.«
Kirsty beruhigt sich. Sie beäugen einander
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