Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Sie hat es nicht einrasten lassen, sondern ein abgerissenes Stück Pappe vom Rücken eines Spiralblocks zwischen Riegel und Rahmen geklemmt. Er hat nicht damit gerechnet, dass es nachgibt, und kann nicht verhindern, dass das Tor gegen den dahinterliegenden Zaun schwingt. Er bekommt es zwar genau in dem Moment zu fassen, als es auftrifft, aber nicht mehr rechtzeitig genug, bevor ein lautes, metallisches Scheppern ertönt.
Martin duckt sich und verharrt stocksteif am Fuß der Treppe.
Kirsty duckt sich hinter dem Gebäude. Flach atmend wartet sie dort und beobachtet. Nichts. Niemand kommt die Treppe herauf. Nur das Flattern eines Plakats, das den Zauberer anpreist, dessen Nachmittagsvorstellungen es der Kommune ermöglichen, diese Bruchbude am Ende der Anlage als Theater zu bezeichnen. Du gehst in Deckung, sagt sie sich. Weil du genau weißt, wie dämlich es ist, was du da machst. Weil du neulich in der Taylor Street beinahe gestorben bist vor Angst, und jetzt schon wieder glaubst, verfolgt zu werden.
Sie überquert die Bahnstrecke und geht auf der anderen Seite der Schienen weiter, als könne dies ihr Vorankommen irgendwie tarnen.
Ich hasse dich, Amber Gordon. Wenn wir uns sehen, wird es mir schwerfallen, höflich zu bleiben, egal wie verängstigt du bist oder wie sehr du meine Hilfe brauchst. Deinetwegen habe ich selbst Angst. Deinetwegen macht mich die zerstörerische, ätzende Angst vor Entdeckung schier wahnsinnig und gefährdet meine Ehe. Ich liebe ihn. Mein Gott, ich liebe ihn, und dir ist das scheißegal. Nicht ich hab sie umgebracht, Amber, du warst es.
Ein stürmischer Windstoß reißt an ihrem Schal, und die unvermittelte Wucht des Seewinds lässt sie nach Luft schnappen. Warum Menschen in dieser Stadt ihr Vergnügen suchen, wird sie nie begreifen. Die Bohlen sind rutschig, und überall, wo der Fußweg übers Pier repariert wird, liegen Werkzeuge und Material herum. Verdammt große Hämmer und Stemmeisen, für jedermann sichtbar.
Mehr als die Hälfte hat sie jetzt geschafft. Sie kann sich des Gefühls nicht erwehren, beobachtet zu werden. Videoüberwachung? Sie hat keine Kameras bemerkt, allerdings ist es heutzutage eigentlich Vorschrift, welche zu haben. Trotzdem ist Amber jetzt schon seit einigen Stunden hier; sollte sie es immer noch sein, dann gab es niemanden, der sie hier rausgeworfen hätte. Entweder gab es also keine Kameras, oder sie funktionierten nicht oder niemand überwachte die Bilder.
Natürlich glaubst du, beobachtet zu werden, denkt sie. Das wäre nämlich der Weltuntergang. Hör auf, Kirsty. Es ist eine situationsbedingte Angst, keine reale.
Trotzdem bleibt sie stehen und sieht sich noch einmal um. Der Steg ist leer, die Treppe zum Tor in der Ferne kaum sichtbar. Blöd, denkt sie. Ich war noch nie gut darin, den Unterschied zwischen eingebildeten und echten Gefahren zu erkennen. Wenn, dann wären wir heute vielleicht nicht in dieser Situation.
Auf Händen und Füßen krabbelt er die Treppe hinauf und schaut auf den Bohlengang hinaus. Sie ist nicht zurückgekommen. Diese Bekloppte geht weiter und benutzt jetzt sogar die andere Seite der Bahnstrecke, um ihm sein eigenes Vorwärtskommen zu erleichtern. Alles, was er tun muss, ist, geduckt vier Meter zu der Haltestelle zu rennen, dort Deckung zu suchen und ihr dann so dicht auf den Fersen zu bleiben, wie er will.
Der Mond bricht kurz durch die Wolken, und sein Licht ergießt sich wie ein Fluss auf dem Meer. Für einen kleinen Moment sieht Whitmouth, eingetaucht in sein melancholisches Licht, wunderschön aus, und der sich unaufhaltsam ausbreitende Seenebel mildert die krasse Kargheit der Wohnblocks aus den Sechzigern. Dann, ebenso schnell, treibt ihr ein neuerlicher Windstoß wieder Regentropfen wie Nadelstiche ins Gesicht und lässt sie eilig Schutz unter der knapp bemessenen Markise der Spielhalle suchen.
Drinnen herrscht tiefste Finsternis. Bucklig und lauernd warten die Automaten und die feuchten, klebrigen Böden auf die frühmorgendliche Reinigungsbrigade. Zu beiden Seiten der zweiflügeligen Eingangstür quellen zwei riesige Standaschenbecher über. Während sie sich unter den fünfundzwanzig Zentimeter tiefen Unterstand drängt, öffnet sich der Himmel, als hätte jemand auf einen Knopf gedrückt, und Regen schießt durch die Dachrinnen. Die Stimmung des Meeres verändert sich, aus der dumpfen Brandung wird ein wütendes Grollen. Der Grund unter ihren Füßen beginnt zu beben.
Die letzten dreißig Meter legt Kirsty rasend
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