Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
zurück und erreicht den Hauptplatz. Er ist menschenleer. Keine Spur von Amber, nur volle Abfalleimer und leere Sitzbänke. In einer Pfütze kommt sie zum Stehen und sieht sich hektisch um. Kein Mensch. Nur sie und der prasselnde Regen und das Blinklicht auf der Wasserrutsche. Vor ihr ragt in edwardianischer Pracht und Herrlichkeit das Theater auf, die Fenster der Kartenschalter gleichen schwarzen Augen, und Marvo der Umwerfende grinst sieben Meter groß von einem Plakat auf sie herab. Halb erwartet sie, Amber schutzsuchend unter dem Vordach zu entdecken, aber dort ist niemand.
» Scheiße«, sagt Kirsty laut. Regen rinnt ihr übers Gesicht. Ich wusste, dass ich beim Auto hätte bleiben sollen. Gar nicht erst herkommen. Sie könnte zum Kuckuck mal überall sein. Wahrscheinlich hat die Polizei sie längst mitgenommen, und es besteht keinerlei Notwendigkeit, hier zu sein…
Sie öffnet den Mund schreit aus vollem Hals. Um den Sturm und das Meer und die flatternden Leinwände der Tarot-Zelte zwischen den Blumenbeeten und das Klappern von etwas anderem, mit dem der Wind hinter der Spielhalle spielt, zu übertönen. » BEL ! BEEEEEELLLLL !«
Eine Bewegung, im Augenwinkel. Sie wirbelt herum, bereit, sich zu verteidigen, und sieht, dass die Eingangstür zu dem miesen kleinen Wachsfigurenkabinett aufgegangen ist. Ambers Kopf kommt zum Vorschein: verängstigt und hoffnungsvoll zugleich.
» Scheiße!«, schreit Kirsty und platscht über die Bohlen ins Trockene.
KAPITEL 43
Es heißt » Das Horrorhaus des Doktor Wachs«, und der Name passt. Drinnen riecht es muffig, nach alten Kleidern und Trostlosigkeit, und das Erste, worauf ihr Blick beim Eintreten fällt, ist eine Enthauptungsszene. Es ist dunkel, einzige Lichtquelle ist die Beleuchtung der Notausgänge, und gesichtslose Gestalten lauern in den düsteren Nischen der Seitenwände.
Der Regen prasselt auf das Dach aus Teerpappe, und der Fußboden schwankt mit dem Wellengang. Wie auf einem Schiff, in einem Hafen mitten im Winter. » Wo kommt der bloß her?«, fragt sie und späht in die Finsternis. » Als ich ankam, hat es nur genieselt.«
» Das passiert hier ständig. Sie nennen es den Whitmouth-Wildling. Hat irgendwas mit der Themsemündung und der Nordsee zu tun.«
» Da können wir jetzt jedenfalls nicht raus.«
» Nein«, sagt Amber. » Aber es lässt bald wieder nach. Dauert nie lange. Komm.«
Sie führt sie durch die schweren Samtvorhänge, die den Eingangsbereich vom Hauptraum trennen. Dieser ist in ein gespenstisch rotes Licht getaucht, beengt und vollgestopft. Gesichter, die einem vage bekannt vorkommen, starren steif in eine geheimnisvolle andere Welt, mit ausdruckslosen Augen und für immer eingefrorenen Mündern, die etwas sagen wollen. Hier befinden sich weitere, nun grausamere szenische Darstellungen als die im Eingangsbereich: ein auf einer Folterbank ausgestreckter Mann mit zum Schrei verzerrtem Gesicht; ein kambodschanischer Bauer, der einem Mann im Anzug eine Plastiktüte über den Kopf stülpt– eine dieser gestreift-karierten, wie man sie in jedem Laden an der Ecke bekommt; Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg wälzen sich in Matsch und Stacheldraht. DIE UNMENSCHLICHKEIT DES MENSCHEN GEGENÜBER DEM MENSCHEN steht auf dem Transparent an der Wand. Und all das zu einem Eintrittspreis von 9,95 Pfund inklusive Mehrwertsteuer, denkt Kirsty. Ein Schnäppchen.
» Heiliger Himmel«, sagt sie, » das ist ja die reinste Höllenparty. Ich hätte mir vor Angst in die Hose gemacht, wenn ich hier drin hätte warten müssen.«
Amber lacht trocken. » Komischerweise habe ich mir vor Angst in die Hose gemacht, bevor ich hier reinkam. Um ehrlich zu sein, sind die hier die beste Gesellschaft seit Tagen.«
Sie lässt sich auf ein gepolstertes Sitzpodest in der Mitte des Raums fallen. » Danke, dass du gekommen bist«, sagt sie. » Ich weiß nicht, was ich getan hätte.«
Kirstys Zorn meldet sich wieder. » Na ja, du hast mir keine andere Wahl gelassen, oder?«
Beschämt schaut Amber zur Seite. » Tut mir leid.«
Kirsty starrt sie an. Amber schaut zurück, und ihre Blicke treffen sich. » Ehrlich«, versichert sie ihr. » Es tut mir wirklich leid. Ich wusste einfach nicht, was ich tun soll. Überall nur Leute, die nach mir suchen, und keiner, der mir hilft. Ich brauchte dich.«
Die Menschenmassen in der Stadt fallen Kirsty wieder ein, die selbstgemachten Waffen– und die Abwesenheit der Polizei. Sie geht zu einer Bank ein paar Meter weiter und setzt sich. Sie
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