Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Bewährungsauflagen zu überprüfen. Los, mach!«
Kirsty hat keine Antwort. Amber ist rot angelaufen, sie spuckt die Worte aus, als ob sie schon seit Jahren in ihr brodeln.
» Dein Mann– wie heißt er noch, Jim? Hast du’s ihm erzählt bei eurem Bettgeflüster? Oder als ihr händchenhaltend über den Strand von Saundersfoot geschlendert seid? Wenn er dich an deinem Geburtstag zum Essen ausgeführt hat? Dann vielleicht? Bei Kerzen und Bruschetta? Beim Ach-komm-schon-lass-uns-ein-Glas-Champagner-Trinken? Und? Hast du?«
» Nicht, Bel. Bitte.«
»› Übrigens, Liebling, hab ich dir je erzählt, dass ich mal ein kleines Kind umgebracht habe?‹«
» Halt die Klappe!«
» Meinst du… Meinst du, nur weil du etwas aus dir gemacht hast, würde es einfach verschwinden? Meinst du, weil du einen Mann und Kinder hast und in die Christmette gehst und Glühwein trinkst und niemand etwas über dich weiß, heißt das, dass es nie passiert ist? Du kannst die Geschichte nicht auslöschen, Jade!«
» Nein!«, begehrt sie auf. » Nein, ich hab nie… Aber Bel! Ich bin nicht sie! Ich bin nicht mehr dieses Mädchen! Ich nicht und du auch nicht!«
» Blödsinn«, sagt Amber. » Du wirst sie sein, bis ans Ende deines Lebens. Dieses mieses kleine Stück Scheiße, das ein Kind umgebracht hat, steckt direkt in dir. Besser, du gewöhnst dich dran.«
Kirsty steht zitternd im Türrahmen und holt tief Luft. Sie ist so wütend, denkt sie. Ich weiß nicht, wie ich dagegen ankommen soll. Mir fällt es schwer, mich an das Kind zu erinnern, das ich einmal war. Was wir getan haben– es kommt mir wie ein Traum vor. Ein schrecklicher, hässlicher Alptraum, an den man sich erinnert.
Amber legt sich hin und lässt einen Arm über die Augen fallen. Kirsty sieht auf ihre Armbanduhr. Kurz nach vier. Sie müssen bald aufbrechen, Sturm hin oder her. Sie können sich nicht darauf verlassen, dass das Wetter die Putzkolonne fernhält. Sie geht zu ihr, setzt sich und legt eine Hand auf Ambers Arm, eine vergebliche Geste weiblichen Trosts.
» Ich denke jeden einzelnen Tag daran, weißt du«, sagt Amber. » An alles. Wie es passiert ist. Das ganze blöde… oh Gott. Jeden Tag erinnere ich mich an ihr Gesicht. An diesen bescheuerten Anorak und wie sie ausgesehen hat. An den Schlamm in ihren Augen. Oh mein Gott.«
Kirsty durchzuckt eine Erinnerung: Chloes Gesicht, wie es unter zwei Handvoll Erde und Blättern vom Rand des Lochs verschwand. Erinnert sich an den Regenwurm, der sich, überrascht davon, plötzlich dem Abendlicht ausgesetzt zu sein, davonschlängelte und schleunigst an einen sicheren Ort neben der Stelle verzog, unter der das Ohr des Kindes verborgen war. Auch sie hat nichts vergessen. Nie. Manchmal träumt sie davon, ihre Auflagen zu verletzen, die Familie Francis ausfindig zu machen und Wiedergutmachung zu leisten. Nur wie? Wie kann man eine solche Schuld jemals abtragen?
» Wir waren Kinder«, sagt sie.
» Das ist keine Entschuldigung«, gibt Amber zurück. » Erwachsene haben nur noch ein paar Bewusstseinsschichten mehr. Wünschst du dir nicht auch, dass es eine Zeitmaschine gäbe? Eine Möglichkeit, die Zeit noch einmal zurückzudrehen? Wenn wir… sie an der Bank zurückgelassen hätten. Einfach so. Wenn wir gegangen wären. Nach dem Motto: › Wir sind nicht für sie verantwortlich, wir lassen sie einfach da.‹ Erinnerst du dich noch?«
» Ja«, antwortet Kirsty mit einem ironischen Lächeln. » Ich sagte: » Wir können sie nicht hierlassen. Da könnte sonst wer vorbeikommen. Noch nie was vom bösen schwarzen Mann gehört?«
Aus dem Augenwinkel sieht Kirsty, dass eine der Figuren sich bewegt. Sie setzt sich aufrecht hin und schnappt nach Luft. Schaut angestrengt in die Dunkelheit und hofft, sich damit trösten zu können, dass es nur Einbildung war. Sie ist erschöpft. Jetzt hat sie schon Halluzinationen. Toll.
Aber nein, die Figur bewegt sich wieder. Zwischen den mordlustigen Diktatoren tritt eine schlanke, männliche Gestalt hervor. Zuerst hält sie es für ein Gespenst, klammert sich weiter an die Hoffnung, dass er nur ihrer Fantasie entspringt. Doch als er ins Licht tritt und sie den seltsamen kleinen Mann aus dem Nachtclub wiedererkennt, weiß sie, dass er real ist. Und dass er jedes Wort, das sie gesprochen haben, mitgehört hat.
KAPITEL 44
Er hält sich nicht auf, sondern stürmt zur Tür. Bleibt unterwegs mit dem Ärmel an Josef Stalin hängen und reißt ihn polternd zu Boden. Amber öffnet die Augen und setzt sich
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