Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
ebenfalls. Ich könnte es vermutlich abstreiten und leugnen, aber wozu? Vielleicht können wir ihn ja einholen und ihm einreden, dass er es falsch verstanden hat. Vielleicht. Oder wir könnten an seine Gutmütigkeit appellieren, ihn davon überzeugen, dass das Leben von Kirstys Kindern mehr wert ist als sein Finderlohn von News of the World. Die Chance ist winzig, aber die einzige, die wir haben.
Von wegen Chance. Amber weiß, dass ihr Leben im Grunde vorbei ist, hat es gewusst, seit Vic verhaftet wurde, und sich darüber gewundert, warum ihr Instinkt sie trotzdem dazu trieb, sich vorzumachen, sie hätte eine Chance. Jetzt gibt es nichts mehr: keine Freiheit, keine Sicherheit, keinen Frieden. Das ganze Land hat ihr Erwachsenengesicht gesehen; es hat das Volk von seinen Fernsehbildschirmen angeschrien und es beim Morgentee angeknurrt. Jetzt gehört sie ihm: das Gestalt gewordene Schreckgespenst, aufs Neue öffentliches Eigentum. Sie weiß, dass sie nie wieder unerkannt spazieren gehen wird.
Trotzdem verfolgt sie die beiden weiter. Vielleicht gibt es ja zumindest für Kristy noch eine Chance. Und eine Chance für ihre Kinder.
Martin ist wie berauscht vor Glück. Er kann ihre Stimme über das Rauschen des Meers hinwegwehen hören, die Verzweiflung, mit der sie ihn bittet, stehenzubleiben. Das ist das Beste, was mir je passiert ist. Morgen werde ich sichtbar sein. Morgen werden alle wissen, wer ich bin. Der Mann, der die Wahrheit ans Licht brachte.
Die Erregung macht ihn schnell. Normalerweise ist er nach einem Vierhundertmeterlauf erschöpft und verachtet sich selbst. Heute Nacht jedoch, in der die aufwühlende Brandung und der Kick seiner Entdeckung ihn beflügeln, jagt er dahin wie eine junge Gazelle. Springt über den Müll der Bauarbeiter neben der Bahnhaltestelle, ohne aus dem Tritt zu geraten, rast voran in Richtung Ruhm und Unabhängigkeit.
Ein unbändiges Machtgefühl erfüllt ihn. Seine zwei schlimmsten Feinde. Ein solches Geschenk wirft einem das Leben nur einmal in den Schoß. Tja, Kirsty Lindsay, ich wusste ja, dass irgendwas mit dir nicht stimmt. Ich wusste, dass du etwas verheimlichst. Aber das? Daran hätte ich nie im Leben gedacht. Dass du dich in aller Öffentlichkeit versteckst, wahrscheinlich die ganze Zeit über mit ihr Kontakt hattest und der Welt ins Gesicht gelacht hast. Aber jetzt kriegst du es zurück. Oh mein Gott, jetzt kriegst du es zurück!
Erneut hört er durch den Wind ihr Geblöke. » Warten Sie! Oh, bitte! Bitte, warten Sie!«
Er hört ein Poltern, dann ein Klirren hinter sich und riskiert einen Blick über die Schulter. Sie hat das Gebäude erreicht, ist gegen etwas geprallt und hingefallen. Martin bleibt einen Moment stehen, um zuzusehen, wie sie zappelt. Legt den Kopf in den Nacken und lacht.
Sie haben jetzt die Hälfte des Piers hinter sich, und Kirsty rennt weiter, quält sich weiter. Sie spürt das Spannen in ihrer Brust, Panik jagt ihr das Blut hämmernd durch die Halsschlagader. Bleib stehen. Bitte halt an. Wir können reden. Irgendeine Lösung finden.
Doch Stück für Stück gewinnt sie an Boden. Sie war nie eine gute Läuferin, aber die Verzweiflung verleiht ihr Tempo. Ich muss ihn aufhalten. Ich muss. Gerade erreicht er die Bauarbeiten an der Haltestelle und setzt darüber hinweg, als hätte er Flügel an den Schuhen. Ihr Knie schmerzt dort, wo sie sich gestoßen hat. Sie weiß, dass sie ihr Tempo nicht wird halten können, dass das hier ihr Leistungsvermögen übersteigt. Aber jetzt hat er nur noch sechs Schritte Vorsprung. Wenn sie ihn doch bloß aufhalten könnte. Ihn zum Stolpern bringen könnte.
Sie kommt zum Müllhaufen der Bauarbeiter und versucht wie er darüber zu springen. Ihr Fuß bleibt jedoch an irgendetwas hängen– etwas Metallenem, in der Dunkelheit nahezu unsichtbar–, und unversehens stürzt sie, mit ausgestreckten Händen, um sich abzufangen. Sie prallt auf einen Stapel Bauholz, ihre Hand rutscht seitlich daran hinab und trifft auf einen scharfkantigen Gegenstand aus Metall. Sie verspürt einen stechenden Schmerz, und instinktiv schließt sich ihre Hand darum. Er ist schwer und gekrümmt: zwei kurze, rechtwinklig angeordnete Rohrstücke, aus deren Enden Bolzen ragen. Ohne hinzusehen, weiß sie genau, worum es sich handelt: Es ist ein Koppler, eines dieser schweren Eisenteile, durch die man die Streben von Baugerüsten miteinander verbindet und der Konstruktion Stabilität verleiht. Über Gerüste weiß sie alles. Denn acht harte Monate haben sie
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