Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
greift nach dem Hemd.
» Gehst du aus?«
Er öffnet einen Perlmuttknopf nach dem anderen und weigert sich immer noch, sie anzusehen. Ich habe dieses verdammte Hemd gebügelt, denkt sie. » Ja.«
» Vic.« Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Will ihn dazu bringen, dass er es sich anders überlegt. Ein sinnloser Wunsch, wie sie weiß.
Er kehrt ihr immer noch den Rücken zu, schlüpft in die Ärmel und knöpft sich das Hemd zu. An der Haltung seiner Schultern kann sie ablesen, dass er wütend ist und dieses Gefühl nährt. Was ist schlimmer? überlegt sie. Ein Mann wie Vic, der seinen Ärger durch Schweigen und Abschotten zum Ausdruck bringt, oder einer, der ihn, wie die meisten Männer hier in der Gegend, lautstark und häufig körperlich äußert? Manchmal fragt sie sich, wenn sie krank vor Kummer und Sorge darüber, wohin er jetzt wohl wieder gehen mag, um ihn herumschleicht, ob ein kurzer, heftiger Wutausbruch nicht besser wäre.
» Bitte«, sagt sie. » Können wir nicht reden?«
Er wendet ihr sein Profil zu, die Mundwinkel sind heruntergezogen. » Da gibt’s nichts zu reden«, erklärt er. » Ich will keine Lügen mehr hören. Ich hab die Nase voll, dir zuzuhören.«
» Ich lüge nicht!«, protestiert sie zum tausendsten Mal. » Vic! Wieso willst du mir nicht glauben?«
Er fährt herum wie eine Kobra. Sie zuckt zurück und versucht zu entkommen, aber er packt ihren Arm, fest wie ein Schraubstock, und schiebt sein Gesicht ganz nah an ihres. Seine Augen sind nur noch Schlitze und glitzern wie Diamanten. Sie kann seinen Pfefferminzatem vom Zähneputzen riechen. Er will heute Abend jemand aufreißen, denkt sie. Um es mir heimzuzahlen. Denkt er, ich wüsste das nicht? Oder ist es genau andersherum? Tut er das, um zu sehen, wie weit er mich treiben kann, bevor ich zusammenbreche?
» Wag ja nicht, mich anzuquasseln!«, zischt er. » Ich weiß alles über dich, Amber. Du Lügnerin. Du verdammte, dreckige kleine Lügnerin! Du hast mich die ganze Zeit angelogen, oder etwa nicht? Ich weiß, was für eine du bist. Ganz genau. Ich dachte, du bist anders, aber das bist du nicht. Du bist auch bloß eine von diesen beschissenen Schlampen!« Er lässt ihren Arm los und rückt unvermittelt von ihr ab. Nachdem der kurze Wutausbruch vorüber ist, kommen seine Worte nun wieder ruhig und sachlich heraus, während er sich weiter das Hemd zuknöpft. » Eine verlogene, beschissene– Schlampe.«
Er stößt sie auf den Flur hinaus. Geschockt stützt sie sich aufs Treppengeländer. Mit versteinerter Miene geht er an ihr vorbei. Ein paar Sekunden später hört sie die Haustür zuschlagen.
11 UHR 30
» Hast du irgendwelche Narben?«, erkundigt sich Jade. Das Karussell wird langsamer, und sie ist unschlüssig, ob sie Lust dazu hat, herunterzuhüpfen und es noch mal anzuschieben.
» Narben? Ja.«
» Ich auch«, sagt Jade. Sie krempelt ihr Oberteil hoch und zeigt eine Reihe verblasster unregelmäßiger Sprenkel vor, die über ihren Brustkorb verteilt sind. » Stacheldraht«, klärt sie Bel auf. » Als ich drei war.«
» Cool!«, meint Bel. » Wie?«
» Drübergestolpert«, sagt Jade.
» Musstest du genäht werden?«
Jade schüttelt den Kopf. » Mein Vater hat gesagt, ich wäre selber schuld.«
» Hmm«, meint Bel, sich dieser Logik anschließend.
» Ich würde es nie lernen, wenn ich die Folgen nicht am eigenen Leib erfahren würde«, sagt Jade. » Aber jetzt du. Zeig her.«
Bel überlegt, dann zieht sie den Ärmel hoch. Zeigt die Narbe auf der Innenseite ihres Oberarms. » Operation«, erklärt sie. » Da war der Bruch. Darin steckt ein Metallstift. Damit habe ich schon die Bombendetektoren in Flughäfen ausgelöst. Das Teil hat aus meiner Haut rausgeragt und so.«
» Toll!«, meint Jade. » Wie hast du das angestellt?«
Das Karussell kommt zum Stillstand. Bel überdenkt ihre Geschichte. » Bin die Treppe runtergefallen«, sagt sie beiläufig, » mit vier.« Sie fügt keine weiteren Einzelheiten hinzu. Manche Dinge erzählt man nicht mal so eben jedem; das hat sie schon vor langer Zeit gelernt.
Jade zieht eine ihrer Sandalen aus, um einen Spalt zwischen ihrem großen Zeh und dem daneben zu zeigen. Über einen Zentimeter dringt er in ihren Fuß ein, eine seilförmige, rote Narbe begrenzt die Ränder.
» Meine Güte!« Bel ist beeindruckt. » Wie ist das denn passiert?«
Jade schnaubt. » Shane und ich haben eine Mutprobe mit Darrens Jagdmesser gemacht, und ich bin nicht ausgewichen. Mein Dad meint, ich hätte weniger
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