Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
die Luft sauber ist, vor allem aber, weil sich mit der Dämmerung die lange Arbeitsnacht ihrem Ende nähert und der Zeitpunkt, an dem sie ihre müden Knochen für ein paar Stunden in ihr warmes, weiches Bett legen kann, nicht mehr fern ist. Heute Nacht hat sie sämtliche Sitze der Achterbahnwagen geschrubbt und gewienert, sämtliche Überreste weggewischt, und jede Oberfläche mit Desinfektionsspray und einem halben Dutzend Wischtüchern behandelt. Sie hat die Plexiglasfenster geputzt, durch die die Anstehenden sehen können, was im Rest des Vergnügungsparks los ist, während sie sich Stück für Stück die Treppe hochschlängeln. Und sie hat das Haargel und Überreste von Pomade und Haarspray abgewischt, die auf sämtlichen Kopfstützen einen Schmierfilm hinterlassen.
Jetzt befindet sie sich in dem abgesperrten Bereich unterhalb der Gleise und sammelt die Verpackungen, Münzen, Kondome und anderen kleinen Schätze ein, die den ahnungslosen Gästen bei den Loopings aus den Taschen gefallen sind. Hier unten klebt alles, weil immer noch überraschend viele Leute trotz aller Warnungen Getränkedosen mit auf die Fahrt nehmen. Man erkennt sie später im Vergnügungspark immer an dem zuckrigen Zeug im Haar und dem leicht ängstlichen Blick. Am Ende der Saison muss dieser Bereich unter den Fahrgleisen immer gekärchert werden; davor besteht dafür wenig Veranlassung, da dort in der Regel nur das Reinigungspersonal hinkommt. Blessed hebt sich diese Arbeit immer bis ganz zum Schluss auf, damit sie im fahlgrauen Tageslicht sehen kann, was es so alles gibt. Es ist ein beliebter Job– er gebührt der dienstältesten Reinigungskraft und wurde von Amber an Blessed weitergegeben, als sie in die Führungsebene aufstieg. Es ist schon erstaunlich, was die Leute so alles verlieren und es erst bemerken, wenn sie den Vergnügungspark schon wieder verlassen haben. Gewöhnlich finden sich hier unten mindestens ein Zehner an Kleingeld, Sonnen- und Krankenkassenbrillen, kleine Schmuckstücke, Bonbonrollen, Schlüsselbunde (die grundsätzlich ins Fundbüro wandern) und gelegentlich eine Brieftasche. Ihre Besitzer nehmen vermutlich an, von Taschendieben beklaut worden zu sein, weshalb sie nie zurückkommen und Anspruch darauf erheben. Als Christin hatte Blessed anfänglich Skrupel, das Geld herauszunehmen, bevor sie die Brieftaschen abgab. Doch wenn sie es nicht tut, reißt es sich Jason Murphy oder einer der anderen Wachleute unter den Nagel, und dann geht es für Alkohol oder Drogen oder anderes sinnloses Zeug drauf. Die Einkünfte aus ihrer eigenen Unehrlichkeit gehen direkt in den Vermögensfonds für Benedicks Medizinstudium. Ihre » Opfer« betrachtet sie als Wohltäter.
Heute Nacht war die Ausbeute relativ mager. Gestern war es bewölkt, deshalb waren Sonnenbrillen (die sie dem Secondhandladen in der Fore Street für fünfzig Pence verkaufen kann) fest in den Handtaschen verstaut, über den ausgeleierten Hosentaschen hingen Jacken, sodass nichts herausfallen konnte. Immerhin hat sie drei Pfund sechzig in Münzen gefunden sowie drei Päckchen Kaugummi, über die Ben sich freuen wird. Außerdem ein Haarteil: einen dreißig Zentimeter langen Pferdeschwanz in goldenem Kunstblond zum Anstecken. Sie wundert sich über die Vergesslichkeit seiner Besitzerin und will ihn schon im Mülleimer entsorgen, doch dann zögert sie. Nein, er ist noch in gutem Zustand. Bevor ich ihn wegwerfe, sollte ich erst einmal Jackie fragen, ob sie ihn nicht haben will. Auf dieser Welt wird einfach zu viel weggeworfen.
Sie streckt sich und sieht auf die Uhr. Halb sechs, fast Zeit fürs Ausstempeln. Sie wird ihre vertraglichen fünfeinhalb Stunden noch abwarten, bevor sie es tut. Es lohnt sich nicht, im Funnland schnell zu arbeiten; die Mitarbeiter werden nach Stunden bezahlt, und damit hat es sich. Außerdem möchte sie, wenn möglich, gern von Amber im Auto mitgenommen werden, und die ist immer die Letzte, die geht. Sie beschließt, aufzubrechen und Jackie zu suchen. Nimmt ihren Müllbeutel und schlendert in Richtung Müllcontainer.
Jackie telefoniert. Um halb sechs früh hat sie bereits jemanden aufgetrieben, mit dem sie quatschen kann. Sie hat die Wurfbude gereinigt, obwohl dort meist nicht viel mehr zu tun ist, als aufgeplatzte Kokosnüsse zu entsorgen und die Preise abzustauben, damit nicht allzu offensichtlich wird, wie selten hier etwas gewonnen wird. Sie trägt ihre funkelnagelneuen Gummihandschuhe mit den gekräuselten Spitzenbündchen und hat dem
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