Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
gut gelaufen, wie sie schlecht für mich gelaufen ist.
Sie kann die Verbitterung förmlich schmecken. Hat das Gefühl, das Leben sei unfair, nein, sie weiß, dass es unfair war: Jade wurde belohnt, sie dagegen bestraft. Schau sie dir an, denkt sie. Läuft am hellichten Tag erhobenen Hauptes durch die Gegend, und ich drücke mich im Schatten herum. Ob sie je über mich nachdenkt? Wie ich über sie denke? Halb mit Liebe, halb mit Wut, als die Freundin, die ich nie hatte, der Ursprung von allem, was mies an meinem Leben ist?
Sie bemerkt, dass ihr Tränen übers Gesicht laufen, die sich mit dem Regen vermischen. Sie bleibt stehen und hält sich am Riemen ihrer Tasche fest, während eine Woge der Trauer über sie hereinbricht und sie mit ihrer Wucht erschreckt. Ich war ein Kind. Und alles, einfach alles, ist mir an einem einzigen bösen Nachmittag entrissen worden.
Sie wischt sich mit dem Handrücken über die Augen und geht mit großen Schritten auf die Corniche zurück. Sie istder Eindringling, nicht ich. Und wenn sie in mein Territorium eindringt, kann sie auch ein paar Fragen beantworten.
Martin bemüht sich, unbeeindruckt zu wirken, obwohl er sich innerlich vor Scham windet. Unfassbar, dass ich das gesagt hab, das über die Presse. Jetzt glaubt sie sicher, ich schere sie mit den anderen über einen Kamm, auch wenn ich versucht habe, ihr klarzumachen, dass ich mich falsch ausgedrückt habe. Ich hab’s vermasselt und nicht mal geschafft, mich richtig mit ihr zu unterhalten. Ich muss es weiter versuchen. Sie wird mir zuhören wollen, wenn sie erst mal begreift, wer ich bin.
Er schüttelt die Hand des Stadtrats ab, die immer noch auf seinem Oberarm ruht, und geht Richtung Stadt davon, ohne sich zu verabschieden.
Kirsty hastet landeinwärts und sieht auf die Uhr. Zehn vor drei. In zehn Minuten beginnt die Pressekonferenz. Sie muss dahin, wo der Pulk sich gerade versammelt, mit ihrem Presseausweis durch die Absperrung kommen und irgendein Fleckchen finden, wo sie mitschreiben kann, was gesagt wird. Keine einfache Sache bei diesem Wetter, und sich im Regen Notizen zu machen ist ein absoluter Scheißjob. Jedenfalls solange man noch bei Verstand ist.
Sie hält bei einem Laden, der buntes Strandspielzeug aus Plastik verkauft, und starrt auf fluoreszierende Windräder, die im Wind rattern. Vielleicht sollte ich so eins für Sophie kaufen. Klar, weil das, was Sophie in ihrem Leben noch fehlt, ein Windrad an einem Stiel ist. Reiß dich zusammen, Kirsty! Du hast eine Aufgabe zu erledigen. Konzentrier dich. Du bist immer nur so gut wie dein augenblicklicher Job, das weißt du doch. Egal, was du davor gemacht hast– du musst nur einmal was vergeigen, und schon bist du weg vom Fenster, so läuft das bei Freiberuflern nun einmal. Wahrscheinlich geht sie dir genauso aus dem Weg wie du ihr. Immerhin steht für uns beide eine ganze Menge auf dem Spiel.
Jemand tippt ihr auf die Schulter. Sie dreht sich um. Bel ist einen Schritt zurückgetreten und betrachtet sie mit der gleichen Mischung aus Angst, Neugier und Abscheu, die auch sie empfindet.
» Amber«, sagt Bel. » Das ist mein Name. Das bin ich. Amber Gordon.«
Kirsty braucht einen Moment, um die Sprache wiederzufinden, und ist verblüfft, wie ruhig sie klingt, als es schließlich so weit ist.
» Kirsty«, sagt sie. » Ich heiße Kirsty.«
MITTAG
Jade ist Madonna. Jede ist in diesem Sommer Madonna, allerdings wühlen die älteren Mädchen in Verkleidungskoffern nach Spitzenteilen und fingerlosen Handschuhen, um noch einen Tick überzeugender zu wirken. Jade muss sich mit einem muffigen, etwas schmuddeligen Baumwollschal begnügen, den sie ans Friedhofstor gebunden gefunden und sich um den Kopf gewickelt hat, und damit, ihren kurzen Rüschenrock im Bund umzukrempeln, um mehr Schenkel zu zeigen. Sie steht auf der Kirchenmauer und dreht sich um sich selbst, wirft die Arme in die Luft und klatscht über ihrem Kopf dazu in die Hände, um ihre Brustmuskeln zu trainieren.
» Like a vir-gin – puh!«, keucht sie, denn sie tanzt ziemlich energisch, und ihre Kondition ist nicht die beste. Aufreizend lässt die die Hände an ihrem Körper auf und ab gleiten. » Fucked for the very first time.«
» Es heißt touched, nicht fucked«, behauptet Bel.
» Das glaubst du doch selber nicht«, meint Jade. » Luh-ike a vur-ur-ur-ur-gin, uh-when yuh heartbeat’s nu-nuh-nuh necks to mine.«
Sie gerät ins Wanken und rettet sich durch heftiges Gefuchtel mit den Armen. Stößt die Hüften
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