Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
erst zur einen, dann zur anderen Seite wie eine Burlesque-Tänzerin. » Wuh-hoooo-uh-uh-woah-o-uh-woah-oh, woah-oh«, singt sie. Bel überlegt eine Weile, dann klettert sie neben sie und bringt sich ebenfalls in Positur.
» Nein, nicht so«, erklärt Jade. » Du musst dir mit den Hüften mehr Mühe geben. Als ob du in ’ner Gondel sitzt.«
Bel darf sich die Top of the Pops im Fernsehen nicht anschauen, deshalb hat sie auch das Video nicht gesehen. Sie ist tatsächlich die Einzige, die den Song nur vom Hören kennt, aus dem Transistorradio, das sie, die Lautstärke auf niedrigste Stufe gestellt, samstagabends nach dem Zubettgehen ans Ohr presst, um sich auf Radio Luxemburg die Chart Show anzuhören. Trotzdem stellt sie sich vor, wie es auf einem wackeligen Boot auf einem italienischen Kanal wäre, und bewegt die Hüften seitwärts, als wolle sie die Balance halten. » Ja, das ist es«, schnauft Jade, und beide kichern.
Mit einem dumpfen Geräusch geht die Kirchentür auf, und eine der frommen Frauen vom Blumenkomitee tritt heraus (so nennt sie jedenfalls Bels Stiefvater, Michael), in der Hand einige grün verkrustete Glasvasen. Sie trägt eine Daunenjacke und eine karierte Hose, ihr graues Haar wird von einem Seidenschal mit aufgedruckten Trensen und Sporen resolut zusammengehalten. Sie kippt den Bodensatz aus den Vasen in den Abfluss neben der Kirche, richtet sich auf und fragt:
» Was treibt ihr denn da?«
» Gar nix!«, gibt Jade ihre Standardantwort.
» Das sieht mir aber nicht nach nichts aus.« Ihre Stimme, daran gewöhnt, im Freien Hunde zu maßregeln, dröhnt wie ein Wirbelsturm über den Friedhof. » Was habt ihr hier auf der Mauer zu suchen? Ich hoffe, ihr beschädigt sie nicht.«
» Nein, tun wir nicht«, flötet Bel. » Wir tanzen nur.«
» Nun, dann tanzt gefälligst woanders. Wenn diese Mauer zusammenfällt, werden eure Eltern sie bezahlen müssen.«
Jade betrachtet die jahrhundertealten Feldsteine zu ihren Füßen. » Das Risiko gehen wir ein«, erwidert sie. » Ich glaub nicht, dass die so schnell zusammenkracht.«
» Werd bloß nicht frech!«, schreit die Frau. » Ich weiß, wer du bist, Jade Walker. Glaube ja nicht, das ganze Dorf hätte nicht ein Auge auf dich!«
» Rutsch mir doch den Buckel runter«, gibt Jade zurück, und Bel kichert. In ihrer Welt würden Mädchen nie so mit einem Erwachsenen reden. Und wenn, dann würden sie in ihr Zimmer geschickt. Oder, wie in ihrem Fall, in den Keller.
Mit einem missbilligenden Grunzen kehrt die Frau zur Kirche zurück. Noch einmal schaut sie sich nach den Mädchen um. » Ich bin sehr beschäftigt, sonst würde ich mir dich auf der Stelle vorknöpfen, junge Dame«, sagt sie. » Ich mache jetzt die Blumen hier fertig, und wenn ich wieder herauskomme, seid ihr weg.«
» Oder was? Wollen Sie dann den Pfarrer rufen?«, fragt Jade.
Grollend wirft die Frau die Kirchentür hinter sich zu.
» Blöde Kuh«, meint Jade, verschränkt die Handgelenke überm Kopf und lässt anzüglich die Hüften kreisen. » Yuh so fine, and yuh mine.«
Bel imitiert die Pose und fällt in ihrer schönen Altstimme ein: » Ibbe yoz, tuh the enduv tiy-yime –«
» Wow!«, ertönt eine männliche Stimme. » Ein Winztitten-Komitee.«
Bel fährt zusammen, verliert den Halt und ergreift hilfesuchend Jades Arm. Für einige Sekunden halten sie das Gleichgewicht, dann plumpsen sie alle beide auf den Friedhof. Bel streift im Fall mit dem Schenkel einen Grabstein und schürft sich die Haut auf.
» Aua!« Sie sieht, dass Blut durch ihre rosa Baumwollshorts sickert. Jade rappelt sich auf und stellt sich, die Arme in die Hüften gestemmt, auf ein vermoostes Plattengrab.
» Verpiss dich, Shane!«, sagt sie.
Bel schaut auf. Der älteste Walker-Junge – mit seiner Lederjacke und den mit Gel zurückgekämmten Haaren eine Art Billigversion des Bassisten von Spandau Ballet, Martin Kemp – steht mit ausdruckslosem Grinsen auf dem Gehsteig.
» Wer ist denn deine kleine Freundin, Jade?«, fragt er.
» Verpiss dich, Shane!«, wiederholt sie.
Bel starrt ihn lange und angestrengt an. Bisher hatte sie noch nie Gelegenheit gehabt, ihn aus der Nähe zu betrachten; normalerweise eilen sämtliche Dorfbewohner mit abgewandtem Blick an ihm vorbei. Shane hat mit seinen neunzehn Jahren schon eine ganze Reihe Verurteilungen wegen Einbruchs und Autodiebstahls: Da ihm sowohl die Bauernschläue als auch die Fahrkünste seines Bruders Darren abgehen, wird er immer wieder erwischt. Um den Knast ist er
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