Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Tisch. » Ich habe natürlich Verständnis dafür, wenn du deine Schicht nicht beenden willst.«
Meine Güte, denkt sie. Ist das vielleicht einfach, ein Biest zu sein. Und ich habe all die Jahre gebraucht, um das herauszufinden.
Als ob sie Ambers Gedanken gehört hätte, stößt Jackie ihren Stuhl vom Tisch zurück und sagt leise: » Du Biest.«
Amber zuckt die Achseln. » Ich verstehe, dass du sauer bist«, sagt sie in dem Personalabteilungsstil, den sie den ganzen Abend in ihrem Büro geprobt hat. In ihrem früheren Leben hat sie jede Menge Jobs verloren, aber nie bemerkt, wie gezielt beleidigend viele solcher Personalgespräche eigentlich sind. » Es ist für alle Seiten belastend.«
» Du Scheißmiststück«, sagt Jackie mit erhobener Stimme. Das schwache Stimmengewirr, das in entfernteren Bereichen des Raums wieder eingesetzt hat, legt sich augenblicklich wieder. Alle Blicke sind auf sie gerichtet. » Wir zwei wissen, warum du das machst.«
Das würde sie nicht tun. Doch nicht vor allen Leuten.
» Du schmeißt mich raus, weil ich mit deinem Freund gevögelt hab«, sagt Jackie.
Hinter ihr wird die Luft eingezogen. Tadeusz und Blessed sitzen starr auf ihren Stühlen. Amber schließt die Augen. Hält stand und erwidert nichts.
» Versuch bloß nicht, so zu tun, als wüsstest du’s nicht«, sagt Jackie.
Amber erlaubt sich eine gehässige Imitation von Jackies eigenen Worten. » Aber Jackie, ich dachte, wir wären Freundinnen.«
Keinerlei Regung im ganzen Raum.
» Du hast es rausgekriegt, und jetzt zahlst du’s mir heim«, sagt Jackie.
Tja, was hast du erwartet? Einen Blumenstrauß?
» Glaub mir, Jackie«, erwidert sie mit einem trällernden Humor in der Stimme, der eine Heilige zur Weißglut getrieben hätte, » wenn du, wie du dich ausdrückst, mit meinem Freund… gevögelt hast, heißt das nur, dass du nicht nur faul bist. Sondern dass du eine faule Schlampe bist.«
Jackie sieht aus, als hätte man sie geohrfeigt. Amber ist versucht, ihr den offenstehenden Mund zuzudrücken. Stattdessen nimmt sie das Formular und den Umschlag und schleudert beides über den Tisch.
» Wie dem auch sei, du bist entlassen«, sagt sie.
12 UHR 30
» Ach du meine Güte«, ruft Jade, » bist du vornehm!«
Bel hat überhaupt nicht über die Auffahrt oder das Haus oder die Wirkung nachgedacht, die sie auf ihre Begleiterin haben könnten. Das Ganze gehört ja auch nicht ihr, sondern Michael, und ihr Leben lang war sie Michaels und Lucindas Entscheidungen ausgeliefert, fast schon ihre Geisel.
» Bin ich nicht«, erwidert sie. » Wie kommst du darauf, dass ich vornehm bin?«
Jade lacht laut und verächtlich auf. » Spinnst du?«, fragt sie und betrachtet kritisch die zweihundert Jahre alten Buchen, die in perfekter Reihe und in exaktem Abstand zueinander entlang der Auffahrt gepflanzt wurden und das Haus an deren Ende verbergen. Ihr eigenes Haus liegt zwar ebenfalls nicht direkt an der Straße und ist vor dem Blick vorbeifahrender Fahrzeuge verborgen, doch dorthin führt ein matschiger Weg, an dem Brombeergestrüpp, Holunderbüsche und Schlehenhecken um die Vorherrschaft kämpfen. Für sie bedeutet vornehm sein, im Bad einen Duschschlauch an den Armaturen zu haben, statt sich die Haare mit einem Krug ausspülen zu müssen. Dinge zu essen, die man aus der Fernsehwerbung kennt. Sein Auto ordnungsgemäß zu verschrotten, wenn der TÜV es nicht mehr abnimmt, statt es den Brennnesseln auf dem Feld zum Fraß vorzuwerfen. Für Jade sind die Kinder aus der modernen Siedlung auf der anderen Seite der Ortschaft vornehm.
Wo Jade herkommt, ist » vornehm« eine Beleidigung. Für Bels Familie dagegen ist es ein Ausdruck von Sehnsucht.
» Habt ihr auch einen Swimmingpool?«, fragt sie.
» Nein.«
» Ein Pony?«
» Miranda hat eins. Michael sagt, es hat keinen Zweck, dass ich auch eines bekomme, weil man in Mirandas Alter anfangen muss, damit es was wird.«
Selbst für Jade klingt das nach einer reichlich unfairen Ausrede. Sie schielt zu Bel hinüber, doch deren Miene ist teilnahmslos. Diesen teilnahmslosen, gleichgültigen Gesichtsausdruck, der keinerlei Gefühle offenbart, beherrschen nur vornehme Leute wirklich gut. Sie findet einen heruntergefallenen dicken Ast auf dem Kies der Auffahrt und schlägt damit auf den Wiesenkerbel am Wegrand ein. » Ich sterbe vor Hunger«, sagt sie.
» Ich auch fast«, antwortet Bel.
» Wer ist eigentlich Miranda?«
» Meine Halbschwester. Sie ist sechs. Und Michael ist ihr Vater«, sagt Bel
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