Im Schatten der Mitternachtssonne
zurückgekommen.« Sie erhob sich und seufzte tief. Dann fragte sie Zarabeth mit einem forschenden Blick: »Bist du in Ordnung, Zarabeth? Kommst du zurecht?«
Zarabeth nickte und versteifte sich unbewußt in Erwartung der Worte, die kommen mußten. Und Helgi sagte kühl und gleichmütig: »Die Zeit heilt alle Wunden, du wirst sehen.«
Zarabeth sah der Älteren in die Augen — in Magnus' hellblaue Augen — und sprach aus, was ihr auf dem Herzen lag: »Nein, ich glaube nicht. Das Leiden ist zu groß, und in mir ist zu wenig Kraft, um meine Wunden zu heilen.«
Helgi wußte, daß sie aufrichtig sprach. »Es war zu viel Veränderung für dich in zu kurzer Zeit, zu viel Leid, zu viel Unsicherheit. Das hat nichts mit deiner Stärke oder Schwäche zu tun, Zarabeth. Ich sage dir, meine Tochter, du trägst deinen Schmerz und deine Trauer solange, bis du dich von deiner vermeintlichen Schuld befreist. Erst dann wirst du die Frau meines Sohnes sein. Sag mir, wie verkraftet Magnus Egills Verlust?«
»Er träumte, daß er Egill lebendig gesehen hat, aber er war in Gefangenschaft.«
Helgi berührte das Amulett, das sie um den Hals trug. »Vielleicht«, meinte sie, »vielleicht.«
Nachdem Helgi und ihre Leute aufgebrochen waren, trat Tante Eldrid neben Zarabeth und blickte sinnend in die Ferne. »Es ist seltsam — diese Geschichte mit Ingunn, meine ich. Ingunn ist nicht dumm. Zumindest war sie nicht dumm, bevor du gekommen bist. Erst dann wurde aus ihr eine rachsüchtige Frau, die ich kaum wiedererkannte. Ingunn handelt nie ohne Grund. Nein, meine Schwester kennt ihre Tochter nicht so gut wie sie glaubt, sie zu kennen. Es ist wirklich seltsam.«
Mehr wollte sie nicht sagen, obwohl Zarabeth sie mit Fragen bedrängte. Übellaunige alte Frau, dachte sie und machte sich daran, Rüben zu schälen, um sie mit frisch gefangenen Heringen zu braten.
Am nächsten Tag regnete es, ein kräftiger, kalter Regen, der einen Vorgeschmack auf den rauhen Winter gab. Zarabeth fröstelte und dachte an die langen, dunklen, kalten Wintermonate, die ihr bevorstanden. Beunruhigt betrachtete sie die schweren Wölken, die sich über den Bergen zusammengebraut hatten. Die See im Viksfjord war aufgewühlt und schlug hohe Wellen. Sie dachte an Magnus und wunderte sich darüber.
Am späten Nachmittag hörte der Regen auf, und die Sonne kam durch. Die Bewohner verließen das Langhaus. Die Sklaven begaben sich auf die Felder, Frauen wuschen Wäsche in den großen Holztrögen vor dem Badehaus, und die Kinder plantschten in den Pfützen, machten Ringkämpfe und schrien und lachten. Rollos Hammerschläge dröhnten aus seiner Schmiede. Eldrid spann feinen Flachs zu kräftigen Fäden.
Der Alltag war wieder eingekehrt. Alles war wieder, wie es sein sollte, doch dies war ein Trugschluß. Plötzlich konnte Zarabeth das Lachen, Scherzen und Reden um sich herum nicht mehr ertragen. Sie verließ die Umzäunung und ging den Weg hinunter. Sie ging bis ans Wasser, das unruhige Wellen schlug und von dunkelgrauer Farbe war. Sie schaute auf den Kahn, mit dem sie damals zu fliehen versuchte, von dem Lotti gesprungen war, um Magnus zu retten. Wieder zerbrach etwas in ihr. Mit gesenktem Kopf ging sie am Ufer entlang. Sie wollte eine Weile allein sein. Plötzlich hörte sie Hundegebell und hob den Kopf. Nicht weit entfernt stand ein junger Mann vor ihr, groß und kraftvoll gebaut wie Magnus, mit weizenblondem Haar, heller Haut, die Augen eigentümlich silbrigblau. Er hielt lässig ein Schwert in der Hand, stand da und blickte sie einfach an.
»Dein Haar«, begann er schließlich. »Ich habe nie zuvor eine solche Farbe gesehen, obwohl meine Männer mir davon berichtet haben. Rot wie Blut, sagen sie.«
Ihr Haar! Was redete der Mann? Sie blickte auf sein Schwert, schaute ihm über die Schulter, konnte aber niemand sonst sehen. Allem Anschein nach war er allein. Es gab keinen Grund, Angst zu haben.
»Wer bist du?«
Er lächelte und entblößte sehr weiße Zähne. Er war ein gutaussehender Mann, dachte sie gleichgültig, immer noch das Schwert im Auge. Sie fragte sich, ob man sie vom Wachtturm her beobachtete, und wenn, was die Männer zu tun gedachten.
»Ich habe auf dich gewartet, und das Warten ist mir langweilig geworden. Ich hatte überlegt, Malek anzugreifen, aber dazu hatte ich keine Lust. Ich wollte nur dich, und nun haben die Götter dich zu mir geführt. Ich habe meinen eigenen Augen kaum getraut, als ich sah, wie du die Sicherheit der Umzäunung verlassen
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