Im Schatten der Mitternachtssonne
Und sie wird sterben, wenn du nicht genau tust, was ich dir sage.«
Zarabeth blickte Olav haßerfüllt ins Gesicht. »Wenn ich einen Dolch hätte, würde ich dich töten.«
»Dann wäre Lotti morgen früh tot.«
Zarabeth strich mit der Handfläche über ihre schmerzende Wange. Dumpf und bebend fragte sie: »Du willst mich heiraten?«
»Vielleicht später. Jetzt möchte ich nur, daß du in meinem Haus bleibst. Wenn du dich wieder beruhigt hast, nehme ich dich in mein Bett. Und dann wirst du meine Frau, wenn mir danach ist.«
Sie schüttelte erbittert den Kopf, und das Pochen in ihren Schläfen wurde schmerzhafter.
Er kauerte sich neben sie und sagte mit sanfter Stimme: »Hör zu. Ich will dir nicht wehtun. Zwing mich nicht dazu. Ich möchte dich willig und lächelnd sehen. Ich möchte dich so wie du warst, bevor der Wikinger hier aufgetaucht ist.« Er runzelte die Stirn. Nein, das war nicht sein Wunsch. Sie hatte ihm bislang kaum Beachtung geschenkt, seine Anwesenheit eigentlich nur ertragen.
Sie lag auf dem Fußboden, auf den Ellbogen gestützt, wich vor ihm zurück. Sie roch den süßen Duft der Veilchen, die sie ins Stroh gestreut hatte, das den festgetretenen Lehmfußboden bedeckte. Sie blickte in die sterbende Glut im Herd, über dem ordentlich Töpfe und Pfannen an den Haken hingen; daneben standen auf Brettern an der Wand Krüge und Becher. Alles sah so normal aus. Doch sie war gelähmt vor Angst. Die rohen Gewaltausschreitungen in Dublin, das Morden und Brennen zwischen den Wikingern und den entmachteten irischen Anführern, all das waren nur vage Erinnerungen. Auch die blutigen Schlachten zwischen König Alfred und König Guthrum hatten keine Bedeutung mehr für sie, obwohl jede Familie, die sie kannte, unter den kriegerischen Auseinandersetzungen zu leiden hatte. Nein, diese Gewalt war weit entfernt, ging sie nichts an. Hier herrschte die wahre Gewalt, in diesem Haus. Das war die Wirklichkeit. Sie starrte Olav schweigend an, wußte nicht, was sie sagen, was sie tun sollte.
Lotti. Das Kind hatte niemand, nur sie, niemand verstand die Kleine, niemand kümmerte sich um sie. Sie hatte nur ihre große Schwester Zarabeth.
Sie spürte brennende Tränen aufsteigen und schluckte schwer. Tränen halfen ihr nicht. Tränen waren für die Hilflosen. Und sie wollte nicht hilflos sein.
Jetzt redete Olav wieder, mit einschmeichelnder Stimme. »Nun komm, Zarabeth, sag diesem Wikinger Lebewohl. Sag ihm, daß du dich gegen eine Heirat mit ihm entschieden hast. Er wird in See stechen, und alles wird wieder so sein, wie es einmal war. Es ist so einfach, Zarabeth. Versprich mir, daß du mit ihm reden wirst. Du triffst ihn morgen auf dem Marktplatz und sagst ihm, daß du ihn nicht zum Mann haben willst.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Olav. Das werde ich ihm nicht sagen. Ich will ihn haben, und ich werde ihn lieben. Ich lüge ihn nicht an, nur weil du es wünschst.«
Er erhob sich mit Entschiedenheit und klopfte sich den Staub von den Hosen. Mit kalter Stimme sagte er: »Dann stirbt Lotti vor dem Morgengrauen.« Sie starrte ihn an. Die Lederriemen, die seine Hosen hielten, hatten sich gelöst und waren ihm bis zu den Knöcheln gerutscht; das feine Wolltuch war zerknittert und an den Knien ausgebeult. Er sah zerzaust und alt aus. Ja, er war ein alter Mann, ein müder Greis, der seinen Willen nicht durchsetzen konnte und ein Opfer brauchte, an dem er sich schadlos halten konnte.
»Ich werde ihm nicht sagen, daß ich ihn nicht haben möchte. Wenn du Lotti etwas antust, wird er dich töten.«
Olav hob teilnahmslos die Schultern. »Nun, was macht es schon? Das Idiotenkind wird sterben, ich werde sterben, und du kannst deinen Wikinger haben. Du segelst mit ihm nach Norwegen, allein und mittellos, nur mit den Kleidern, die du auf dem Leib trägst. Und mit dem Wissen, daß du mit deiner Selbstsucht den Tod zweier Menschen verschuldet hast, die dich lieben.«
»Lieben! Du gemeiner Lügner! Du drohst mir damit, meine kleine Schwester zu töten und behauptest, daß du mich liebst? Bei allen Göttern, ich wünschte, ich könnte dich auf der Stelle umbringen!«
Sie kam auf die Knie. Ihr Gesicht war zornesrot und verzerrt. Olav trat rasch einen Schritt zurück. Dann lächelte er kühl und hob die Schultern. »Glaub, was du willst. Du bist nur eine Frau, und deinen Gedanken fehlt die Logik männlichen Denkens. Doch laß dir eines gesagt sein, Zarabeth: Das Kind ist morgen mittag tot, wenn du dich meinem Willen widersetzt. Es
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