Im Schatten der Tosca
dem Tisch stand ein Blumenstrauß mit einer Karte von Jens Arne Holsteen: »Herzlich willkommen in England.« Die Proben würden erst am nächsten Tag beginnen, Elia war froh, dass sie diesen Abend ganz für sich hatte. Das Gefühl des Wieder-zu-sich-Kommens hielt an. Die harmonische Landschaft strahlte offensichtlich etwas Beruhigendes aus. Vor allem die Gärten bezauberten Elia. Scheinbar zufällig, in Wirklichkeit wohlgeordnet, wucherte es dort, Rosen in wunderschönen Pastelltönen, dazwischen mannshoher Fingerhut, sogar Dünenpflanzen, zottelige Gräser und hartblättriges Gestrüpp.
Auch die Kollegen wirkten überaus nett. Der erste Akt fand ohne die Gräfin statt, und so war die Produktion bereits in vollem Gange. Außer Jens Arne Holsteen kannte Elia niemand, einige Sänger gerade noch vom Hörensagen, aber sie wurde gleich so selbstverständlich aufgenommen, dass sie sich rasch einleben konnte. Abgesehen von ihr und dem Grafen, einem berühmten deutschen Bariton, bestand die ganze Crew, auch die Orchestermusiker, aus Engländern. Mein Gott, war das ein Gezwitscher und Geschnatter, wenn die alle zusammenhockten. Damals in London hatte Elia das gar nicht bemerkt, da war sie mit dem Ensemble auch längst nicht so nahe zusammengekommen wie hier in Glyndebourne.
Jens Arne Holsteen verhielt sich ihr gegenüber sehr zuvorkommend. Privat beließ er es zunächst bei recht konventionellen Floskeln: »Haben Sie eine gute Reise gehabt?« – »Ich hoffe, Sie sind zu Ihrer Zufriedenheit untergebracht.« Dafür äußerte er sich ganz klar über seine musikalischen Absichten bei der Gräfin: »An den Verwicklungen und Turbulenzen des ersten Aktes nimmt die Gräfin nicht teil. Mit ihrem Erscheinen kommt dann ein völlig neuer Ton in das Stück: tiefer Ernst, wirklicher Schmerz, wahre Verzweiflung. Der jungenFrau geht es um Tod und Leben, wenn sie immer heftiger wiederholt:
›O mi lascia almen morir.‹
Als Nächstes ist mir wichtig: Wenn der Graf erscheint, gerät die Gräfin in Panik. Sie kennt seine rasende Eifersucht, sie traut ihm zu, Cherubino zu erstechen, wenn er ihn halbnackt in der Kammer entdeckt. Vor seinem Jähzorn zittern alle, auch Susanna und Cherubino. Also kein Augenzwinkern, keine Niedlichkeiten, alles ist echt, die Verzweiflung, die Angst, der Zorn. Und auch die Liebe, die Leidenschaft. Auch die Komik, der Witz.
Wir müssen das musikalisch zum Ausdruck bringen, innig, herzbewegend, funkelnd und, wo es sein muss, auch aggressiv. Darum habe ich Sie, liebe Elia, als Gräfin gewünscht und keine von diesen manchmal allzu lieblichen Mozartspezialistinnen. Sie für die Gräfin und Norbert Grainau als Grafen, ein ›Herrschaftsmensch‹, wenn Sie ihn auf der Bühne erleben, werden Sie verstehen, was ich meine.«
Jens Arnes Vorstellungen kamen Elia sehr entgegen. Sie bewunderte die Gräfin für ihre Großmut, Unvoreingenommenheit und Herzenskraft. Sie litt nicht nur an der Lieblosigkeit ihres Gatten, sie musste auch noch mit ansehen, wie er ihrer eigenen Kammerzofe nachjagte. Aber statt zu resignieren oder sich beleidigt oder gar verbittert in ihr Schneckenhaus zurückzuziehen, beschloss sie, ihren Stolz und auch ihre Angst beiseitezuschieben und zu kämpfen. Weil sie ihren Mann wirklich liebte, konnte sie am Ende nicht anders, als ihm zu verzeihen, das erkannte sie selbst ganz luzide. Für diesmal gewann sie den Flatterhaften zurück, und alle waren glücklich, aber auf die Dauer hatte sie als Liebende wahrscheinlich die schlechteren Karten. Die Worte schwiegen davon diskret, aber die Musik konnte ein paar wehmutsschwere Seufzer nicht unterdrücken, bevor vollends alle in einen merkwürdig rasenden Freudenjubel ausbrachen.
So wie die Gräfin ein Hauch von Wehmut umgab, so folgte Elia ihre Trauer wie ein Schatten. Es ging ihr zwar gut, Glyndebournewar zauberhaft und der ›Figaro‹ doch die herrlichste aller Opern. Aber außerhalb der Arbeit sehnte sie sich nach Ruhe und Alleinsein. Sie hatte sich ein Fahrrad geben lassen und rollte die engen, auf beiden Seiten von mannshohen Hecken gesäumten Straßen entlang oder auch querfeldein. Es wohnten noch andere Sänger auf dem Hotelareal. Alle, so schien es Elia, waren mit ihren Partnern nach Glyndebourne gekommen, manche sogar mit Kind und Kegel. Aber so gerne sie sonst mit den Kollegen abends zusammensaß und aß und trank und lachte, jetzt ließ sie sich meistens das Essen in ihrem Häuschen servieren. Dort hatte sie auch das Telefon gleich neben sich
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