Im Schatten der Tosca
In New York fühlte sich Elia so wohl wie schon lange nicht mehr. Dafür gab es gute Gründe: Nachdem Elia in den letzten Wochen ständig auf immer andere Rollen hatte umschaltenmüssen, erschien es ihr als wahre Wohltat, sich in aller Ruhe in eine einzige Rolle vertiefen und sich ihr im Verlauf der Proben mehr und mehr annähern zu können. Diese Arbeit liebte sie sehr, und bei Georges Goldberg war sie besonders spannend. Zudem unterschied sich die Leonore grundlegend von all den tragischen, verzweifelten, hysterischen oder auch grausamen Frauengestalten, auf die sie inzwischen abonniert zu sein schien. Ja, sie war Georges Goldberg schon jetzt von ganzem Herzen dankbar, dass er sie für diese Rolle ausgesucht hatte.
Ein weiterer Grund für Elias Wohlbehagen war Massimo. Er hatte sie noch kurz vor ihrer Abreise angerufen, um ihr zu sagen, dass er zur gleichen Zeit wie sie in New York sein würde. Schon an ihrem ersten Abend holte er sie auf einen Willkommenstrunk in Harry’s Bar ab: »Mamma hat mich zu Hause rausgeschmissen, ich bin ihr im Weg bei den Renovierungsarbeiten. Es trifft sich doch fabelhaft, dass du jetzt auch hier bist.« Alles das, was Elia in Barcelona mit Carlos nicht hatte unternehmen können, kam nun in New York mit Massimo aufs Vergnüglichste zustande.
Massimos Freunde, bei denen er wohnte, hatten sich in einer ehemaligen Lagerhalle häuslich eingerichtet. Sie, eine zierliche Sizilianerin, malte Bilder im Riesenformat, während er, ein norditalienischer Rübezahl mit rotblonden Locken und einem feuerroten Bart, zerbrechliche Figuren aus allen möglichen Materialien formte, die er sich auf Schrottplätzen zusammenklaubte. Die beiden kamen Elia vor wie zwei Turteltauben, die sich inniglich liebten und ständig zankten und stritten, über die albernsten Sachen. Bei ihnen verbrachte Elia viele lustige Stunden.
Auch andere Künstler lernte sie durch Massimo kennen. In ihren Ateliers, Werkstätten und Behausungen ging es etwa so zu wie in ›La Bohème‹. Alle schlugen sich wacker durch, und manche von ihnen waren schon recht arriviert, stellten in renommierten Galerien aus. In kurzer Zeit besuchte Elia mehrVernissagen und Ausstellungen, als all die anderen Male, die sie schon in New York gewesen war.
Massimo kannte Georges Goldberg von Kindesbeinen an und durfte zu den Proben kommen, wann immer er wollte. Er war ein ausgesprochener Fachmann, bei Stimmen sowieso, aber auch bei Beethoven. Aus dem ›Fidelio‹ konnte er ganze Passagen vorsingen, um etwas zu demonstrieren. Elia empfand Massimos Hinweise und Einwände als hilfreich und bedenkenswert, sie erinnerte sich wieder an die Gespräche mit Ferdinand, vor ewigen Zeiten. Massimo konnte durchaus kritisch sein, aber er versuchte stets, seine Kritik gut zu begründen, und genauso hielt er es mit seinem Lob, denn er war begeisterungsfähig und lobte gern und viel.
Elia hatte sich im Umgang mit ihren extremen Heldinnen von Verdi, und darüber hinaus angestachelt von Jens Arne, die Manier angewöhnt, auf dramatische Höhepunkte mit verstärktem Aplomb loszustürmen. Ihre Stimme schnitt dann wie ein Messer, ihre Klage schrie zum Himmel. Alles war da
»bigger than life«.
Jetzt half ihr Massimo dabei, für Beethovens Leonore einen anderen Ton zu finden. Auch diese Frau befand sich in einem Ausnahmezustand und in großer Not. Aber sie hatte gar nichts Dämonisches an sich, sie schnaubte nicht nach Rache. Auch ging es ihr nicht um ihr eigenes Schicksal. Sie war keine Göttin, keine Priesterin, keine Königin, kein in den Wahnsinn getriebenes junges Mädchen. Sie war ganz einfach eine tapfere Frau, die über sich selbst hinauswuchs, um ihren Mann zu retten. Es war ganz gut, sich das noch einmal vor Augen zu halten, selbst wenn man es wusste. Schon Georges Goldberg hatte Elias Furor gebremst, aber dass sie sich so rasch umstellen und in Beethovens anders geartetes Pathos einfühlen konnte, verwunderte ihn doch. Andererseits, genauso menschlich, so ungekünstelt und gefühlsstark hatte er Elia in Erinnerung gehabt und ihr darum die Leonore angetragen.
Elia und Massimo kannten sich seit langen Jahren, genaugenommen seit dem Tag, an dem Elia in Begleitung von Padre Ironimo bei Mariana erschienen war. Jetzt kamen sie sich noch näher und sprachen über sehr private Dinge miteinander. »An dem Tag, an dem ich von Martinas Krankheit erfahren habe, bin ich in eine Kirche geflüchtet, um zu beten: Lieber Gott, mach, dass Martina wieder gesund wird, irgend so
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