Im Schatten der Vergeltung
würde, wenn sie ohne Philipps Erlaubnis nach Schottland reisen und ihre Eltern aufsuchen würde. Lady Esther verstand es meisterhaft, vor allen Unannehmlichkeiten die Augen zu verschließen und sich vorzumachen, wenn man keine Schwierigkeiten sah, dann gab es auch keine. So einfach ging das in Lady Esthers Augen. Nur war das Leben selbst leider nicht so einfach.
Nachdem Maureen diese Entscheidung getroffen hatte, fühlte sie sich plötzlich voller Elan und Lebenskraft, als wäre sie wieder das junge Mädchen. Sie würde Schottland wiedersehen! Sie würde in ihr Heimatland zurückkehren! Maureen wusste in diesem Moment: Wenn sie nicht jetzt die Chance ergriff, endlich wieder einen Fuß auf schottischen Boden zu setzen und ihre Eltern zu besuchen, würde sie sich das niemals verzeihen. Sie war Hals über Kopf geflohen, den jungen schneidigen Offizier im Herzen, und dabei hatte sie keine Vorstellung davon gehabt, was es bedeutete, seine Wurzeln aufzugeben. Vielleicht war sie nach dieser Reise in der Lage, mit ihrer Vergangenheit Frieden zu schließen. Am liebsten hätte sie sofort nach ihrer Zofe geklingelt und den Befehl gegeben, umgehend mit dem Packen zu beginnen.
G eorge Linnley hatte Fredericas Hoffnungen erfüllt. Zu Lady Esthers Bedauern war die von ihr erwartete junge Erbin wegen einer plötzlichen Krankheit nicht gekommen, so richtete sich Georges volle Aufmerksamkeit Frederica, und er wich kaum von ihrer Seite. Nun konnte auch Lady Esther nicht mehr leugnen, dass ihr Sohn Interesse an dem Mädchen zeigte. Ebenso empört war sie über Maureen, die sie einfach im Stich gelassen hatte, und hielt Philipp gegenüber mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg. Es kostete sie einige Mühe, gegenüber dem Bischof eine freundliche Miene aufzusetzen. Glücklicherweise musste sie ihn nicht unterhalten, denn der Geistliche hörte sich selbst am liebsten reden. Diese Eigenart, die Lady Esther eigentlich zutiefst verabscheute, führte sie doch am liebsten selbst das Gespräch, kam ihr heute äußerst gelegen. Esther Linnley war froh, als sie den Bischof bei Tisch ihrem Mann anvertrauen konnte. Sollte doch Lord Linnley das unentwegte Geschwätz des Geistlichen über sich ergehen lassen! Mit der Entschuldigung, beim Verkaufsstand nach dem Rechten sehen zu müssen, eilte sie davon, um ihren Sohn ausfindig zu machen. So ein Pech, dass die Verwandte erkrankt war und somit beim Fest nicht dabei sein konnte. Hoffentlich neigte Pamela March nicht generell zu Unpässlichkeiten und war leidend, sie sollte George schließlich gesunde und kräftige Erben schenken. Lady Esther hatte bereits die Dekoration, mit der Linnley Park am Tage der Hochzeit geschmückt werden würde, durchdacht. Natürlich musste die Trauung hier stattfinden, davon würde sie die Brauteltern schon überzeugen. Was für ein nettes und liebes Mädchen diese Pamela doch war! Bestimmt wusste George das große Glück, sie zur Frau zu bekommen, zu schätzen.
Sie umrundete eine Rhododendronhecke und blieb wie angewurzelt stehen. Sie keuchte und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Nur wenige Schritte entfernt war ihr Sohn im Begriff Frederica Trenance zu küssen, die mit glänzenden Augen zu ihm aufschaute. Aus ihrer Frisur hatten sich einige Strähnen gelöst, und unter ihrem verrutschten Schultertuch zeigte sich unsittlich der Ansatz ihrer festen, weißen Brüste. Alles deutete darauf hin, dass George und sie keinesfalls nur miteinander geplaudert hatten.
»George!« Lady Esthers Stimme klang schrill. Der Angesprochene fuhr erschrocken herum, hielt Frederica jedoch mit seinem Arm schützend umschlungen. »Wie kannst du nur!«
Frederica war nicht weniger bestürzt und senkte für einen Moment schuldbewusst den Blick, dann aber straffte sie die Schultern, hob den Kopf und streckte das Kinn nach vorn. Georges Hand an ihrer Taille verlieh ihr Selbstbewusstsein.
»Dein Vater sucht dich.«
Mit hektischen roten Flecken auf den Wangen trat Lady Esther wie ein Racheengel vor die beiden. Zu Fredericas Enttäuschung nahm George seine Hand fort und murmelte: »Ich gehe sofort zu ihm, Mutter.«
Ohne Frederica einen weiteren Blick zu gönnen, eilte er mit weitausholenden Schritten über den geharkten Kiesweg, und das Mädchen stand Lady Esther allein gegenüber.
»Und du, Kind, löst Lady Seelwood umgehend am Stand ab! Die Arme harrt bereits seit Stunden dort aus, weil deine unzuverlässige Mutter es vorgezogen hat, ihr Versprechen zu brechen.«
Fredericas Selbstbewusstsein
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