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Im Schatten der Vergeltung

Im Schatten der Vergeltung

Titel: Im Schatten der Vergeltung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Michéle
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nennen zu können, ließ Ellie an der Seite des Greises ausharren. Was für ein Schlag wäre es für die berechnende Frau, wenn sie, Maureen, sich als McCorkindals Enkelin und damit als rechtmäßige Erbin entpuppte? Sie war sicher, das Anwesen binnen kurzer Zeit wieder in Ordnung bringen zu können, wenn sie den Pächtern den nötigen Respekt abfordern und das ausstehende Pachtgeld einfordern würde. Sie überlegte, inwieweit Fischfang an der Westküste Schottlands eine Rolle spielte, und ob man damit ähnlich wie in Cornwall Geld verdienen könnte. Die Gewässer der Irischen See waren kalt und tief, aber bestimmt auch fischreich ...
    Fahrig strich Maureen sich über die Stirn.
    »Hör sofort auf damit!«, rief sie sich zurecht. »Du glaubst doch nicht im Ernst, er wird dir die Namen der Männer nennen, wenn er erst einmal weiß, wer du bist?«
    Sie konnte nicht warten, bis ihr Großvater tot war, um dann die Burg nach dem Dokument zu durchsuchen. Der Anfall von Sentimentalität war vorüber. Ihre Ziele waren andere, und die durfte sie auf keinen Fall aus den Augen verlieren.
    »Heute Nacht!«, flüsterte sie dem See zu. »Heute Nacht werde ich es finden.«
    Langsam stieg sie den steilen, steinigen Weg zur Burg hinauf, deren trutzige Mauern sich drohend gegen den grauen Himmel abhoben. Den Gedanken, dass hier das letzte Mitglied ihrer Familie lebte, verbannte sie aus ihrem Kopf. Frederica war genauso ihr Fleisch und Blut, ihre Tochter war ihr aber entrissen worden und sie würde sie niemals wiedersehen. Daran trug dieser alte, kranke Mann dort oben in der Burg die Schuld. Mit jedem Schritt, mit dem Maureen sich dem Haus näherte, wurde sie entschlossener. Die Wunde, die die Trennung von ihrer Tochter in ihr Herz gerissen hatte, war nicht geheilt. Sie würde niemals heilen, jedenfalls nicht, solange einer der daran Schuldigen noch am Leben war. Heute Nacht würde sie den Ersten zur Rechenschaft ziehen.
    E s war einfach, sich in den wenigen, noch bewohnbaren Räume der Burg zurechtzufinden. Neben der Eingangshalle, die seit Jahren nicht mehr benutzt wurde, lag das Zimmer, in dem Archibald McCorkindale sich tagsüber aufhielt. Der kleine Raum mit den schmucklosen, kahlen Steinwänden diente gleichzeitig als Wohn- und Speisezimmer. Direkt daneben lag das Schlafzimmer, das der Alte mit Ellie teilte. Das Eckzimmer, in dem Maureen untergebracht worden war, befand sich schräg gegenüber. Auf der anderen Seite der Halle gab es zwei weitere, verwahrloste Zimmer – eines mit deckenhohen Bücherregalen und einem wuchtigen Schreibtisch. Offenbar war dieser Raum einst McCorkindales Arbeitszimmer gewesen. Die Staubschicht auf den Büchern ließ vermuten, dass sie seit Jahren von niemandem mehr in die Hand genommen worden waren. Für Maureen schien der Schreibtisch der wahrscheinlichste Aufbewahrungsort für ein solch wichtiges Dokument zu sein. Maureen hatte auch das erste Stockwerk erkundet, die Holztreppe war jedoch wurmstichig und wirkte wenig vertrauenswürdig. Als McCorkindale seinen Mittagsschlaf hielt und Ellie zum Einkaufen ins Dorf gegangen war, war Maureen leise hinaufgeschlichen, fand aber nur Schmutz und Verwahrlosung vor. Durch die zersprungenen Fensterscheiben waren Eis, Schnee und Regen eingedrungen und hatten die Holzböden ruiniert. Schimmel fand sich in nahezu jeder Ecke, und das spärliche Mobiliar diente nur noch zum Feuermachen. Maureen war entsetzt, wie man ein solches Haus derart vernachlässigen konnte, wusste aber auch, wie viele Dienstboten vonnöten wären, um die Schäden wenigstens notdürftig beheben und weitere verhindern zu können. McCorkindale und Ellie lebten jedoch allein in Bothy Castle. Die Frau war Köchin, Magd, Dienerin und Wärmflasche für den Alten zugleich.
    In dieser Nacht wartete Maureen, bis McCorkindale und Ellie schliefen. Beide hatten einen tiefen Schlaf, trotzdem bemühte Maureen sich, kein Geräusch zu machen, als sie kurz nach Mitternacht ihre Kammer verließ. Im Dunkeln tastete sie sich an den kahlen Wänden entlang durch den schmalen Gang. Erst als sie die Tür des Arbeitszimmers hinter sich geschlossen hatte, wagte sie eine Kerze zu entzünden. Im flackernden Licht der Flamme bekam der Raum sogar einen gewissen Charme. Mühelos konnte sich Maureen vorstellen, wie McCorkindale von hier aus seinen Besitz verwaltet hatte, als es noch etwas gab, dass es sich zu verwalten lohnte. Ob Laura wohl zu seinen Füßen gesessen und gespielt hatte? Wohl kaum, denn McCorkindale war nie

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