Im Schatten der Vergeltung
ein liebevoller Vater gewesen. Für einen Moment befürchtete Maureen, die Fächer des Schreibtisches könnten verschlossen sein. Bothy Castle lag jedoch derart abgeschieden, und der Alte empfing keinen Besuch, so war es nicht notwendig, irgendetwas zu verschließen. Die Schubfächer ließen sich mühelos öffnen, und hektisch durchwühlte Maureen die Papiere, die alt und brüchig und mit endlosen Zahlenkolonnen beschrieben waren. Rechnungen, Briefe, Aufstellungen – früher musste Bothy Castle ein großes Gut gewesen sein. Den Stapel Briefe sah Maureen nur kurz durch. Geschäfts- und Handelsbeziehungen interessierten sie nicht. In der untersten Schublade stieß ihre Hand auf einen harten, in ein weiches Tuch gewickelten Gegenstand. Maureen stieß einen wenig damenhaften Pfiff aus, als sie einen Dolch mit einem kunstvoll geschnitzten Griff entdeckte. Das Tuch hatte die Klinge geschützt, so war sie frei von Rost. Schwer, aber griffig lag die Waffe in ihrer Hand. Es handelte sich um einen Sgian dhu , das Messer, das die Hochländer in ihrem Strumpf getragen hatten. Maureen zögerte nur kurz, dann ließ sie den Dolch in ihrer Rocktasche verschwinden. Nein, das war kein Diebstahl. Auch wenn McCorkindale nie erfahren würde, dass er ihr Großvater war, war sie rechtlich gesehen seine Erbin. Er würde den Dolch ohnehin nicht mehr brauchen und wahrscheinlich auch nicht vermissen.
Nachdem Maureen in den Schubladen das entsprechende Dokument nicht gefunden hatte, klopfte sie die Seitenwände und die Unterseite des Schreibtisches ab. Vielleicht gab es ja irgendwo ein Geheimversteck? Verflixt, das Schreiben musste doch hier sein! Maureen konnte sich nicht vorstellen, dass McCorkindale eine derart wichtige Vereinbarung vernichtet hatte, denn er konnte noch immer für seine Beteiligung an den Jakobitenaufständen belangt werden. Vielleicht hatte er das Dokument auch unter seiner Matratze versteckt und schlief Nacht für Nacht auf dem Beweis seiner Schande?
»Was, in aller Welt, machst du hier?«
»Ah!«
Erschrocken fuhr Maureen hoch und stieß sich den Hinterkopf an der Tischkante. Mit einem Kerzenleuchter in der Hand stand Archibald McCorkindale in der Tür. Mit der anderen Hand stützte er sich schwer auf einen dicken Stock und sah in seinem Nachtgewand, über das er einen fadenscheinigen Überrock geworfen hatte, wie die Witzfigur aus einem schlechten Theaterstück aus. Langsam rappelte Maureen sich auf. Sie hatte keine Angst. McCorkindale war viel zu schwach, um sie aufzuhalten, und mit Ellie, sollte sie auftauchen, würde sie schon fertig werden.
McCorkindale stieß dreimal mit dem Stock auf den Dielen auf.
»Also, ich warte! Was hast du hier gesucht?«
Fieberhaft suchte Maureen nach einer Ausrede. Es wollte ihr keine einfallen. Die Situation war mehr als eindeutig: Sie hatte vor McCorkindales Augen seine Unterlagen durchwühlt. Frechheit siegt, dachte sie, holte tief Luft und stieß hervor:
»Ich suche ein Dokument. Den Vertrag über ein schändliches Verbrechen, das in diesem Haus verübt worden ist.«
Langsam hinkte er auf sie zu, Maureen wich aber nicht zurück. Sein Gesicht war nur noch eine Handbreit von ihrem entfernt, als er die Kerze hochhielt und sie eingehend betrachtete.
»Mein Körper mag zwar alt und meine Knochen klapprig sein, mein Gehirn funktioniert aber noch sehr gut. Meine Augen sind trübe, aber sie sehen genügend, um zu erkennen, wer du bist.« Scharf zog Maureen die Luft ein. Die Zeit schien plötzlich stillzustehen, als sie erkannte, dass er sie durchschaut hatte. »Du bist Lauras Tochter, meine Enkelin.«
»Wie ... Woher ... kannst du das wissen ...?«
McCorkindale stieß ein heiseres Lachen aus.
»Hat dir nie jemand gesagt, dass du ihr wie aus dem Gesicht geschnitten bist? Du lachst wie sie, du runzelst die Stirn wie sie und jetzt betrachtest du mich mit dem gleichen hasserfüllten Blick, den Laura mir schenkte, bevor sie die Burg für immer verließ.«
Maureen ging in die Offensive.
»Wundert dich das? Laura hat es mir erzählt. Alles! Du hast ihr Leben zerstört, nur um deine eigene, feige Haut zu retten.«
Sein Blick verdunkelte sich. Er wankte zu einem Stuhl und ließ sich mit einem Keuchen darauf sinken. Mit einer Handbewegung winkte er Maureen zu sich.
»Komm, setz dich. Keine Angst, ich will dir nichts Böses, und Ellie lassen wir weiterschlafen. Sie hat nichts damit zu tun. Laura hat dir also von dem Handel mit den Engländern erzählt, und jetzt verachtest du mich
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