Im Schatten der Vergeltung
gehen musste.
M it einem tiefen Atemzug strich sich Maureen eine Haarsträhne, die sich aus ihrer Aufsteckfrisur gelöst hatte, hinters Ohr. Die Luft in dem Gartenpavillon war trotz der geöffneten Fenster zum Schneiden dick und sie verspürte erneut den schmerzenden Druck in ihrem Bauch. Für ein paar Wochen hatte sie befürchtet, ihre Beziehung zu Alan wäre nicht ohne Folgen geblieben, obwohl sie immer aufgepasst hatten. Glücklicherweise war sie aber von einer Schwangerschaft verschont geblieben. Als sie mit Alan das Bett geteilt hatte, hatte Maureen oft überlegt, was sie tun würde, wenn ihre Beziehung Früchte tragen würde. Das war nun nicht der Fall, und Maureen fragte sich, was die häufig wiederkehrenden Bauchschmerzen für eine Ursache haben könnten. Bisher war sie immer völlig gesund gewesen. Vielleicht war es die ungewöhnliche Hitze, wie sie nur selten im Juni vorkam.
»Wir beenden den Unterricht für heute, Susan«, sagte sie. »Es ist einfach zu warm um zu lernen.«
Die himmelblauen Augen des Mädchens strahlten.
»O Misses, ich könnte Ihnen stundenlang zuhören! Das ist ganz anders als bei dem Reverend. Der spricht immer nur von der Hölle und den Qualen, die mich dort erwarten. Das macht mir Angst.«
Würde es mir auch, dachte Maureen und strich Susan übers Haar. Für ihr Alter war die Kleine äußerst intelligent und wissbegierig. Schade, dass eines Tages aus ihr eine verzärtelte, lebensunfähige Frau ohne eigene Meinung so wie ihre Mutter werden würde. Louisa Murdoch war in Maureens Augen nicht mehr als ein großes Kind, das sich vor allem und jedem fürchtete – am meisten jedoch vor ihrem Mann. Obwohl der Hausherr nicht anwesend war, zuckte Louisa nur bei der Erwähnung seines Namens zusammen und ihr Blick wirkte wie der eines scheuen Rehs.
»Komm, gehen wir hinein.« Maureen stand auf. »Dort kannst du dein Bild fertig malen. Ich bin sicher, deine Mutter wird sich darüber freuen.«
Eifrig nickte Susan und hüpfte über den Gartenweg, dabei summte sie eine unbekannte Melodie. Maureen folgte ihr und trat in die kühle Halle, die von einem lebensgroßen Portrait über dem Kamin beherrscht wurde. Nicht zum ersten Mal betrachtete Maureen die Gestalt und Gesichtszüge Clifford Murdochs. Obwohl der Maler seinem Modell sicher geschmeichelt hatte, war ein Hang zur Feistigkeit nicht zu übersehen. Murdoch trug eine gut geschnittene Uniform und eine elegante, weiß gepuderte Perücke. Nur der Hauch eines Lächelns umspielte seine vollen Lippen, die Maureen Wollust verrieten. War das ihr Vater? Die Frage hatte sie sich seit ihrer Ankunft wohl schon hundert Mal gestellt. Neben dem Kamin hing ein Spiegel. Maureen sah hinein und studierte eingehend ihre eigenen Gesichtszüge. Nein, sie konnte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Mann auf dem Portrait feststellen, das musste aber nichts bedeuten. McCorkindale hatte gesagt, sie sehe Laura sehr ähnlich, daher konnte sie nicht ausschließen, dass sie das Produkt aus Murdochs Lenden war. Als Maureen nach Murdoch Hall gekommen war, hatte sie es bedauert, Lauras Peiniger nicht sofort von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen zu können. Inzwischen war sie erleichtert, dass er in London weilte, denn das bescherte ihr Zeit. Zeit, die sie brauchte, denn noch wusste sie nicht, wie sie ihre Rache an dem Mann vollziehen könnte. Es hatte keinen Sinn, Clifford Murdoch bei den Behörden anzuzeigen. Er war ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft – sehr vermögend und einflussreich. Kein Richter würde Murdoch wegen einer Tat, die nicht nur lange zurücklag, sondern auch in Kriegszeiten geschehen war, zur Verantwortung ziehen. Nein, es musste einen anderen Weg geben, aber Maureen brauchte Zeit, die Familie und deren Lebensumstände besser kennenzulernen, auch wollte sie mehr über das scheue Reh Louisa erfahren.
Ihre Aufgabe als Susans Erzieherin war nicht besonders anstrengend, man musste sich allerdings für das Mädchen Zeit nehmen. Bisher war Susan nicht mit Liebe und Zuneigung überschüttet worden, so reagierte sie bereitwillig auf jede freundliche Geste. In mancher Hinsicht fühlte sich Maureen bei der Kleinen an Frederica erinnert, sie verbot sich jedoch jeden Gedanken an ihre Tochter. Die Wunde, die Philipp in ihr Herz geschlagen hatte, war noch lange nicht verheilt. Wahrscheinlich würde sie niemals heilen und wurde durch tägliche Erinnerungen immer und immer wieder aufgerissen.
Bei dem Stammhalter Murdochs handelte es sich wahrlich um
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