Im Schatten des Drachen
es wollte. Mit einem Schlag jedoch entglitt mir alles, wurde ich zu einem hilf- und kraftlosen Wesen, das nicht mehr beeinflussen konnte, was als nächstes geschah. Wie gebannt starrte er auf mein Bein, oder besser den Rest davon, und dann konnte ich in seinem Fischgesicht alles lesen, was ich schon kannte. Es war fast, als blätterte ich ein zu oft gelesenes Buch im Schnelldurchlauf durch. Die Überraschung und das Entsetzen nahm ich noch mit, den Ekel konnte ich auch noch ertragen. Aber als sich dann die ersten Zeichen von Mitleid und Geringschätzung auf seiner Jungenmiene abzeichneten, drehte ich mich zu meinem Frühstückstablett um, zog es herüber und hielt es ihm auffordernd hin:
„I’m ready.“
Ich überließ es dabei ihm zu entscheiden, ob ich das Frühstück, den Sex oder meine Gesamtverfassung meinte.
Mit automatisierten Bewegungen nahm er das Tablett entgegen, wohl bedacht, sich mir dabei mit keinem noch so winzigen Schritt zu nähern. Erst als ich die Bettdecke wieder über den Stumpf zog, schaffte er es, den Blick von dieser Ungeheuerlichkeit zu lösen und sich der Tür zuzuwenden. Er blickte nicht noch einmal zurück, und obgleich es völlig unnötig war, sich zu beeilen, hörte ich am hektischen Geschepper des Geschirrs, wie er draußen auf dem Flur davonrannte.
Millionen Sekunden, nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, durchbrach das Beben meiner Brust endlich den Damm in mir. Doch schon beim ersten Zucken wusste ich, dass es den Hass auf mich selbst und die bittere Verzweiflung aus mir nicht würde herausspülen können.
Ich verschlief den ganzen Mittag, das Resultat zweier meiner Höllentabletten, die mich in die selige Barmherzigkeit des Vergessens katapultierten. Als ich wieder zu mir kam, hätte ich zu gerne die Erinnerungen der letzten Nacht und ersten Morgenstunden einfach in diesem Niemandsland zurückgelassen und niemals wieder hervorgeholt. Doch sie holten meine benebelten Sinne mit rasender Geschwindigkeit wieder ein, und in meinem angeschlagenen Zustand hätte ich ohnehin nicht davonlaufen können. Der Stumpf schmerzte wie die Hölle. Um mich abzulenken, konzentrierte ich mich auf das erstbeste, was mir in den Sinn kam: meine kleine Nichte. Vielleicht war es auch meine Schwester Josefine als Kind, deren Gesicht mein Unterbewusstsein heraufbeschworen hatte; doch ihre Tochter sah ihr so ähnlich, dass es fast keinen Unterschied machte und mich gleichermaßen beruhigte.
Wie im Trance griff ich nach dem Handy und wählte die mir so vertraute Nummer. Doch kaum dass meine Schwester sich meldete, versagte meine Stimme, der Kloß in meinem Hals explodierte erneut, und minutenlang brachte ich nichts als Schluchzen und hilfloses Wimmern heraus. Ich schämte mich entsetzlich, und gleichzeitig war ich froh, dass es nur und ausgerechnet Josefine war, die mich in diesem Zustand erlebte. Ihre Geduld war so groß wie die Entfernung zwischen uns, und doch spürte ich sie ganz nah bei mir, ihr tröstendes „Schschsch ... Hannes, ist ja gut. Beruhige dich ...“ glitt sanft wie Babyöl über meine Haut und in meine Sinne, erreichte schließlich mein Herz und stoppte den Tränenfluss.
Endlich war ich soweit, ein verständliches Gespräch mit ihr zu führen.
„Wie geht es dir, Finchen?“
Meine Stimme klang dumpf und verstopft, dennoch schien sie mich zu verstehen.
„Offenbar besser als dir, Bruderherz. Willst du mir gleich erzählen, was passiert ist, oder möchtest du erst noch ein bisschen Smalltalk?“
Ihre herzliche Direktheit tat gut; wir hassten beide die sinnlosen Runden um den heißen Brei. Dennoch entschied ich mich erstmal für den Smalltalk. Im nächsten Moment hörte ich eine Kinderstimme im Hörer.
„Allo Onkel Annes? Ich will dir mal was sagen ...“
Mein Herz ging auf, als ich die Stimme meiner Nichte hörte. Sie erzählte mir von Barbiepuppen und der Geburtstagsfeier einer Freundin, und ich nahm liebevollen Anteil an all diesen belanglosen Kleinigkeiten, die ihr Kindergemüt so sehr beschäftigten. Es tat gut, ihre kindliche Unschuld zu spüren und zu wissen, dass ihre Sorgen aus meiner Perspektive längst nicht so unüberschaubar waren wie das Chaos um mich selbst. Für sie schien es ein Leichtes, mich über dreitausend Kilometer hinweg in ihr Leben einzubeziehen, als stünde ich direkt neben ihr, während ich mich damit abquälte, einen Mann an mich heranzulassen, der mit mir in einem Bett lag.
Plötzlich hörte ich sie fragen: „Kommst
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