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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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öffnen, um den Rauch abziehen zu lassen, oder sie, falls sie klemmten, einzuschlagen.
    Am Ende schickte Victoria die beiden hinaus, damit sich Aurelia nicht noch mehr verkrampfte – doch diese fühlte keine Erleichterung mehr darüber. Die Wehen kamen nun immer schneller, gönnten ihr keine Pausen mehr. Kaum ebbte die eine ab, überwältigte sie der nächste Krampf. Steinhart schien ihr Körper zu werden – und zugleich im Blut zu versinken.
    »Ich sterbe«, murmelte Aurelia kraftlos, »ich sterbe …«
    »Du stirbst nicht!«, hielt Victoria streng dagegen. »Und dein Kind auch nicht. Nicht wenn ich es verhindern kann.«
    Kurz beugte sie ihr Gesicht ganz tief über das von Aurelia, und die Schmerzen wurden bedeutungslos, als sie in ihre Augen starrte. Stur war Victoria, gleichzeitig verletzlich – und so entschlossen. Aurelia klammerte sich an ihre Hände, fühlte sich geborgen und entspannte sich. Nicht nur die Angst vor dem Schmerz fiel von ihr ab, auch die Angst, Tiago Schande zu machen, die Angst, dass das Geheimnis ihrer Herkunft aufgedeckt würde, die Angst, sich selbst zu verlieren. Ja, all diese Ängste spielten keine Rolle mehr; es gab nur sie und das Kind und Victoria … und Alicia war auch noch da. Aurelia hatte es nicht bemerkt, doch sie hatte sich hinter ihr auf den Boden gesetzt, barg nun ihren Kopf in ihrem weichen Schoß, verkündete nicht wie sonst, dass Frauen Opfer bringen müssten, sondern sagte immer wieder mit ungewohnt sanfter, liebevoller Stimme: »Du machst es gut.«
    Aurelia schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, dass sie trotz der neuen Wehe nicht zu atmen vergaß. Als sie sie wieder öffnete, sah sie weder das Gesicht von Victoria noch das von Alicia, sie sah nur die Stoffe, auf denen sie lag: Musselin, Crêpe Duchesse, Tüll und Spitze. Es waren die erlesensten, teuren Stoffe – Stoffe, mit denen sie sich während der letzten Monate gekleidet hatte. Stoffe, die nun beschmutzt waren von Blut und Schweiß und Fruchtwasser und Ruß. Die Farben der reichen Leute, Rosé, Hellblau, Türkis und Grün, vermischten sich mit den Farben der Armut, Grau, Braun und Schwarz.
    Dann sah sie keine Farben mehr. Bei der nächsten Wehe schrie sie so laut wie noch nie in ihrem Leben – und es gab ihr ungemein Kraft. Egal, wer hörte, wie sie die Beherrschung verlor – es gab ohnehin nur noch Victoria, Alicia, sie. Drei ganz unterschiedliche Frauen, die eigentlich nur wenig miteinander verband. Dennoch holten sie nun mit vereinten Kräften das Kind auf die Welt.

    Als es vorbei war, zählte nichts mehr – nicht ihre Angst, nicht Aurelias Schmerz, nicht die Panik und das Chaos, in das die Welt zu versinken drohte. Es zählte nur, dass sie es geschafft hatte, das Kind auf die Welt zu bringen, und dass das Kind lebte.
    Nach außen hin hatte Victoria Ruhe und Selbstbeherrschung vortäuschen können – im Inneren war sie von der Furcht zerrieben worden, etwas falsch zu machen und sowohl Aurelia als auch das Kind zu töten. Doch dann war das Kind, das sich eine Weile förmlich in seiner Mutter festzubeißen schien, einfach aus dem Körper geflutscht – als hätte der nie etwas anderes gemacht, als zu gebären. Es war klein, winzig klein, viel kleiner als alle Neugeborenen, die Victoria je gesehen hatte, aber es war vollkommen. Das rote Gesicht, über und über mit gelblichem Schleim bedeckt, verzog sich, als es schrie, zwar nicht sonderlich kräftig, aber deutlich hörbar.
    »O Gott sei Dank!«
    Es war Alicia, die das ausstieß und sich bekreuzigte, während Victoria kraftlos zurücksank. Ihr Rücken schmerzte wegen der unnatürlichen Haltung, die sie eingenommen hatte, als sie sich über Aurelia beugte, und kurz gab sie sich der Wohltat hin, einfach nur in Ruhe sitzen zu können. Dann erkannte sie, dass ihre Aufgabe noch lange nicht erledigt war. Sie musste die Nabelschnur abklemmen und durchschneiden, und vor allem musste sie das winzige Kind in warme Tücher hüllen. Als das getan war, schrie es nicht mehr, sondern atmete regelmäßig und blickte der Welt mit tiefblauen Augen entgegen.
    »Es ist ein Sohn«, sagte Alicia ehrfürchtig. Victoria hatte sie für eine harte, kalte Frau gehalten, doch nun fiel ihr Urteil etwas anders aus. Bereitwillig überreichte sie das Kind seiner Großmutter, die es ihrerseits an Aurelia weitergab.
    Jene richtete sich mühsam auf, um den Kleinen zu betrachten. Ihre Lippen waren wund gebissen und ihre Stimme ganz heiser, aber sie lächelte dankbar, als

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