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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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Worte, die so schnell über ihre Lippen sprudelten, dass Aurelia sie kaum verstand. Immer wieder war vom Chico die Rede. Sie nahm es Alicia aus der Hand, besah es von allen Seiten, stellte fest, dass es sehr winzig sei, dass aber alles dran wäre, dass es eine Windel bräuchte und niemand besser geeignet sei als sie, ihm die erste umzubinden. Auch den Chico hatte sie gewickelt, nicht auf dem Tisch, wie es die Weißen taten, sondern auf dem eigenen Schoß, wie es die Mapuche hielten.
    Ihr Geplapper setzte sich fort, aber Aurelia hörte es nicht mehr, weil Tiago sie nun hochtrug. So erschöpft sie sich fühlte, so beklemmend war es, sich immer weiter von ihrem Kind zu entfernen. Sie hatte ihren Sohn doch – anders als Alicia, Tiago und jetzt Saqui – noch kaum gehalten, kaum ansehen können! Und auch wenn sie zu schwach war, sich um ihn zu kümmern, es war ihr Kind, es sollte bei ihr sein!
    Sie wollte Tiago aufhalten, als der plötzlich hervorstieß:
    »Ich hatte solche Angst um dich …«
    Sie war gerührt, als sie Tränen in seinen Augen glitzern sah. Er beugte sich vor und küsste ihre Stirn.
    »Nicht!«, rief sie. »Ich bin gewiss voller Ruß und Schweiß und Staub …«
    »Was zählt es, solange nur alles gut ist.«
    Ja, dachte sie, was zählte es, solange alles gut war. Sie hatte einen Mann, den sie liebte. Sie hatte einen gesunden Sohn zur Welt gebracht. Bedeutungslos wurde es, dass sie ihn kaum hatte halten können. Bedeutungslos auch das Opfer, das sie einst für diese Familie gebracht hatte – auf die Malerei zu verzichten.
    »Ich bin so glücklich«, murmelte sie und schloss die Augen.
    In diesem Moment war sie es, und sie war es in den anderthalb Jahren, die folgten … fast immer. Und sie dachte nicht an ihr Opfer … fast nie.

19. Kapitel
    V ictoria hielt die Luft an, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte. Sie war nicht sicher, ob sie groß genug war, um den Türrahmen abzutasten. Tatsächlich konnte sie gerade mal mit ihren Fingerkuppen das berühren, was dort oben lag – vorausgesetzt, Rebeca hatte recht.
    Schon nach Sekunden war es anstrengend, so zu stehen. Sie sank zurück auf die Fersen, atmete tief durch und blickte sich noch einmal um.
    Vor einer knappen Stunde war einer der Kurse in Theorie zu Ende gegangen, in dessen Verlauf sie Schwester Adela so lange nach den Symptomen der Basedowschen Krankheit ausgefragt hatte, bis Victoria dachte, sie würde selbst gleich wahnsinnig werden und die Schwester mit hervorgequollenen Augen anspringen. Sie hatte sich mit Mühe beherrschen können – und alles über die »Glotzaugenkrankheit« gewusst: Zu den klassischen Symptomen zählten Gewichtsabnahme, Schwitzen, Zittern der Hände, Durchfall und Herzjagen. Bei fehlender Behandlung drohte Herztod durch die anhaltende Tachykardie oder Vergiftung des Körpers durch die krankhafte Funktion der Schilddrüse. Maßnahmen gegen die Krankheit waren das Ansetzen von Blutegeln oder Durst- und Trockenkuren, bei denen der Patient entweder nur trockene Brötchen oder auch die rohe Schilddrüse von Hammeln und Kälbern zu essen bekam, die man – um Ekel zu vermeiden – mit Salz und Pfeffer aufs Brot strich.
    Am Ende hatte sich Victoria zwar gefreut, dass sie Schwester Adelas Fragen allesamt beantworten hatte können und sie somit einmal mehr der Möglichkeit beraubt war, sie bloßzustellen, aber zugleich ärgerte sie sich darüber, dass diese immer noch so versessen auf eine Schwäche von ihr wartete, obwohl sie in all den Jahren immer eine vorbildliche Krankenschwester gewesen war. Überdies hatte diese eingehende Befragung dafür gesorgt, dass die vorgesehene Dauer des Kurses deutlich überzogen wurde, und sie war doch so in Eile!
    Wieder stellte sie sich auf die Zehenspitzen und tastete den Türrahmen ab. Diesmal stießen ihre Fingerkuppen gegen etwas Schweres, Kaltes, und sie seufzte erleichtert auf. Endlich! Noch konnte sie den Gegenstand nicht erfassen, aber sie stieß mit den Fingerkuppen so lange dagegen, bis er krachend zu Boden fiel. Erneut drehte sie sich um, um zu prüfen, ob jemand sie gesehen hatte, aber der Gang war leer, und sie bückte sich schnell, um den Schlüssel aufzuheben.
    Sie befand sich im chirurgischen Trakt des Krankenhauses, und jetzt, am späten Nachmittag, herrschte hier Totenstille. Die Operationen waren allesamt am Morgen und Vormittag angesetzt, und so war sie ungestört, als sie den Gang entlang zum Arzneischrank huschte.
    Seit einem Jahr war es nahezu ein Ding der

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