Im Schatten des Feuerbaums: Roman
Eltern und unterschied sich darum von den Chilenen. Aber warum sah er nicht, wie sie unter seiner Berührung errötet war?
Sie zuckte die Schultern und entschied, nicht länger darüber nachzudenken. Schwungvoll setzte sie das Weinglas an und nahm einen kräftigen Zug.
Die gemeinsamen Abendessen bei Valentina verliefen für gewöhnlich ruhig und gesittet. Manchmal führte Pepe seine misslaunigen Selbstgespräche, manchmal stellte Valentina Fragen. An diesem Abend kam sie jedoch erst gar nicht zum Reden. Kaum saßen die Mädchen am Tisch, sprudelten die Erlebnisse aus ihnen heraus. Wild gingen Worte und Themen durcheinander, Hygiene und Kunst, Kropfexstirpation und Ölmalerei, Anarchisten und Anisbonbons.
Letztere hatte Aurelia von Tiago zum Abschied geschenkt bekommen, und stolz hob sie die Tüte hoch, als sei dies ihr kostbarster Schatz. »Das habe ich von Tiago Alvarados bekommen. Er wird mich künftig auf der Escuela unterrichten!«
Trotz der Unruhe, die das Geplapper mit sich brachte, lächelte Valentina wohlwollend. Pepe dagegen rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und fühlte sich von den Mädchen offenbar in seinem Recht beschnitten, laut über das Leid der Welt im Allgemeinen und sein persönliches Elend im Besonderen zu sinnieren.
»Ich wusste doch, du bist begabt!«, rief Victoria triumphierend – und ging das erste Mal auf etwas ein, was Aurelia und nicht sie selbst am heutigen Tag erlebt hatte. »Du wirst eine große Malerin werden; das haben nun auch die Professoren der Escuela eingesehen.«
Zwar war es nur ein Professor gewesen, aber das ließ Aurelia lieber unerwähnt – genauso wie das unerquickliche Treffen mit Señor Ponce. »Tiago ist so höflich … so wohlerzogen … so zuvorkommend. Er ist ein großer Maler, auch wenn er mir nicht erzählt hat, woran er arbeitet. Gewiss wollte er mich nicht bloßstellen, weil seine Bilder so viel besser als meine sind.«
Victoria rümpfte die Nase. »Warum sollen seine Bilder denn besser sein? Etwa weil er ein Mann ist? Pah! Warum sollen Männer von Natur mehr Talente haben als Frauen? Wir sind doch alle Menschen! So sieht das auch Rebeca … und Jiacinto ist der gleichen Meinung. Schwester Adela dagegen ist eines dieser frommen Schafe, das wohl noch nie einen eigenständigen Gedanken gefasst hat. Die Art, wie sie vor Doktor Espinoza buckelt, war einfach widerwärtig!«
Aurelia horchte auf, denn der Name kam ihr bekannt vor. Hieß nicht auch Andrés, Tiagos Freund, mit Nachnamen Espinoza, und hatte der nicht von seinem Vater gesprochen, der im Krankenhaus arbeitete? Doch in der Aufregung erschien ihr das nicht sonderlich bedeutsam. »Tiago hat sich so viel Zeit für mich genommen«, fuhr sie fort. »Wir haben den ganzen Nachmittag miteinander verbracht, und ich durfte ihm erzählen, mit welchen Farben ich arbeite.«
»Du durftest?«, fuhr Victoria wieder auf. »Das ist doch dein gutes Recht, von deiner Arbeit zu berichten, keine Gnade! Im Übrigen solltest du auf dich stolz sein, weil du auf der Schule aufgenommen wurdest. Was rühmst du ständig diesen … Tiago?«
»Er hat gewiss schon viele Ausstellungen gehabt. Er ist mit so viel Respekt behandelt worden, obwohl er kaum älter ist als ich.« Genau genommen war das übertrieben – schließlich hatte sie Tiago nur gemeinsam mit Señor Ponce gesehen, aber das wusste Victoria nicht. »Ich hoffe, er zeigt mir eines Tages seine Bilder«, seufzte Aurelia.
»Ich hoffe, er beschäftigt sich vor allem mit deinen!« Victorias Stimme wurde schrill. »Wer genau ist er überhaupt? Wie heißt er noch mal mit Nachnamen?«
»Alvarados«, sagte Aurelia stolz und betonte jede Silbe mit Bedacht.
Valentina beugte sich nachdenklich vor. »Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor, wenn ich auch nicht weiß, woher.«
Aurelia zuckte die Schultern.
»Und er ist einer der Professoren?«, fragte Victoria misstrauisch. »Obwohl er noch so jung ist?«
Aurelia geriet ins Zweifeln. Dass er ein Professor sei, hatte Tiago eigentlich nicht ausdrücklich gesagt. »In jedem Fall ist er ein großartiger Maler!«, rief sie überzeugt.
»Du hast doch eben gesagt, dass du seine Bilder noch nicht gesehen hast«, erwiderte Victoria schroff, »woher willst du also wissen, wie gut er ist? Womöglich gar besser als du?«
»Hätte er sonst auf der Escuela de Bellas Artes studiert?«
»Das tust du doch jetzt auch.« Victorias Blick wurde stechend, als Aurelia verlegen den ihren senkte. »Oder etwa
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