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Im Schatten des Kreml

Im Schatten des Kreml

Titel: Im Schatten des Kreml Kostenlos Bücher Online Lesen
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Metallskelett. Ringsum wurden die Gipsplatten aufgerissen, um nach Hohlräumen in der Mauer zu suchen. Alles ist von feinem weißen Talk überzogen. Ein Nagel ragt aus einer Leiste an der Stelle, wo vorher Melniks Bett war.
    Golko zeigt dem Mann ein altes Armeefoto von Melnik und lässt sich bestätigen, dass er tatsächlich der ehemalige Mieter ist. In der Zwischenzeit durchsuche ich den Schutt und stoße auf eine Ikone, eine dünne Holzplatte mit einer schlichten Malerei.
    »Wer hat die Untersuchung geleitet?«, erkundige ich mich.
    »Eine Polizistin«, antwortet der Vermieter. »Olga. Ich wundere mich, dass die Treppe noch steht.«
    Golko holt sein Handy heraus, um etwas über sie in Erfahrung zu bringen.
    Während er telefoniert, sehe ich mir die Ikone genauer an und fahre vorsichtig mit den Fingern über die bemalte Seite: ein Bild von Jesus, der in die Hölle hinabsteigt. Einem Aufkleber auf der Rückseite zufolge stammt es aus Wolodga, spätes 15. Jahrhundert. Es muss das Letzte gewesen sein, was Melnik jeden Abend vor dem Schlafengehen sah, etwas, das einen Mann mit einem schlechten Gewissen in Angst und Schrecken versetzen kann.
    »Inspektor Olga Paraskova hat den Mord an Melnik untersucht«, sagt Golko und wählt eine neue Nummer.
    Die Schublade des zertrümmerten Nachttischs liegt auf dem Fußboden, darin eine Bibel, der man ansieht, dass sie häufiger aufgeklappt als geschlossen dalag. Wahrscheinlich, weil Melnik beim Lesen öfter eingeschlafen ist. Die Seiten sind dünn wie die Haut einer Zwiebel, die Ränder vom vielen Anfassen ausgefranst.
    Der Schrottwarenhändler beobachtet mich. »Melnik war ein Kirchgänger«, bemerkt er, und zum ersten Mal habe ich das Gefühl, einen Hauch von Sympathie für seinen früheren Mieter zu entdecken.
    »Sie sagt, wir sollen zu einer normalen Uhrzeit in die Wache kommen«, erklärt Golko und hält das Handy vom Kopf weg, den Daumen über der Sprechmuschel.
    Ich hänge die Ikone auf und halte eine Leiste vorsichtig daneben, um sicherzugehen, dass sie gerade hängt.
    »Sagen Sie ihr, sie hat fünfzehn Minuten.«

27
    Golko steuert den Mercedes zurück, an Bahnhof und Busdepot vorbei. Wir halten vor einem Betonblockgebäude, das genauso sanierungsbedürftig wie die Moskauer Wache ist, und Golko stellt den Motor ab.
    Mit knirschenden Schritten gehen wir über zugefrorene Pfützen zu einem Zementblock mit einem Holzüberbau. Treten mit dampfendem Atem das Eis von den Stiefeln. Im Eingangsbereich empfangen uns gewelltes Linoleum, rissige Gipswände, an denen dasselbe allgegenwärtige Grün abblättert wie in so vielen anderen staatlichen Gebäuden, und ein durch Glas abgetrennter Schalter für einen Beamten – sofern einer im Dienst ist. Auf der Wache herrscht sogar derselbe muffige Geruch wie im dreißigsten Bezirk, wo Barokov sitzt. Wir ziehen unsere Mäntel aus, behalten sie aber über dem Arm, statt sie an die Haken an der Wand zu hängen. So verlassen die Wache auch wirkt, ein unbeaufsichtigter Mantel kann schnell verschwinden.
    »Hallo?«, ruft Golko.
    Ich schiebe mich an ihm vorbei, öffne die Tür zu einem Gruppenraum und renne in eine Frau von der Statur eines Shetlandponys. Selbst ihr bräunliches Haar hängt herunter wie eine Mähne und verdeckt die Hälfte ihres Gesichts.
    »Wer sind Sie?« Ihre Stimme klingt fast so tief wie die von Maxim. Sie kaut auf einem Klumpen Kaugummi, der ihrem Atem eine schwere Süße verleiht.
    »Volk.« Ich zeige mit meinem Daumen über die Schulter. »Das ist Golko. Wir sind hier, um über den Mord an Melnik zu sprechen. Kommen wir zur Sache.«
    »Ich mag es nicht, wenn man mich mitten in der Nacht aus dem Bett holt.«
    »Einen Moment, bitte«, unterbricht Golko. Er tritt vor mich hin und lässt seinen Ausweis aufblitzen. Mit einem unbeholfenen Lächeln versucht er, meine ungehobelte Art wettzumachen. »Ich bin Militärermittler Golko Kachan. Wir würden gern die Akte einsehen und ein paar Fragen stellen. Wir wissen Ihre Kooperation zu schätzen und bedauern es, Sie deswegen belästigen zu müssen.«
    »Was ist mit ihm?« Sie richtet ihren Zeigefinger auf mich und bläst eine rosa Kaugummiblase, die zwischen uns beiden zerplatzt.
    »Sie wissen, wer ich bin, Frau Paraskova.«
    Sie sieht mich eine Weile an und grinst. »Stimmt, ich denke schon.« Sie trägt kein Make-up, ihre Augen wirken klein, fast versunken in den teigigen Wangen, aber so wie sie leuchten, würde ich denken, dass sie den Augenblick genießt. »Also dann, bringen wir

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