Im Schatten des Kreml
ein Skelett in einem schwarzen Anzug. Er bleibt ein paar Schritte vor mir stehen, sodass ich ihn deutlich erkenne, während er mich betrachtet, als wäre ich eine schmutzige Toilette. Die Ähnlichkeit zu seinem Sohn ist verblüffend. Die Unterschiede sind hauptsächlich sein fanatisch glühender Blick und die Art, wie er sich bewegt. Die Glieder seines Körpers scheinen lose miteinander verbundene Teile zu sein, die sich spasmisch zusammenziehen, wobei bei jedem ruckartigen Schritt das Ganze auseinanderzufallen droht. Filip Lacheks Sohn mag versucht haben, die Haltung seines Vaters anzunehmen, aber das Groteske des Originals hat er nicht erreicht.
»Das ist Volk?« Lacheks Stimme ist unnormal hoch, sie kreischt wie eine Säge auf Stein. Teerflecken verunzieren sein Gebiss bis auf einen oberen Eckzahn, der auffallend lang und weiß ist, eine alterslose Krone.
»Alexei Volkovoj«, liest der Mann mit dem verbundenem Kopf aus einem Ordner vor. Auf dem Ausweisschild an seinem Gürtel steht der Name Edorskai, und erst jetzt erkenne ich in ihm den Bettler von der Straße wieder, in der ich entführt wurde. Wahrscheinlich der Anführer, schlau genug, die anderen sterben zu lassen, bis er ungehindert mit dem Betäubungsgewehr auf mich schießen konnte. Die dicken Gläser reflektieren das Licht, während er die Seite umblättert und sich voll und ganz auf das Dossier konzentriert statt auf Lachek, als hätte er Angst, Opfer seines Zorns zu werden.
»Von Geburt an Waise. Als Minderjähriger im Gefängnis, Vermerk darüber später auf Anweisung der Armee gelöscht. Moskauer Militärakademie und zwei Jahre Eliteausbildung in Balaschicha-2, dann Achtundfünfzigste Armee. Angeblich nach dem Verlust eines Fußes in Inguschetien mit dem Rang eines Majors entlassen, mittlerweile aber Oberst. Einjährige diplomatische Ausbildung. Spricht Englisch mit amerikanischem Akzent. Spielt gern den Gangster, manchmal als einer von Maxim Abdullaevs Jungs, wenn er nicht gerade für General Nemstow im Einsatz ist.«
Lachek verzieht den Mund, als er den Namen Maxim hört.
Edorskai klappt den Ordner zu und rückt ängstlich von Lachek ab. »Zeugen sagen, er habe bei dem Attentat auf das AMERCO-Gebäude grundlos mit einer Pistole auf Ihren Sohn eingeschlagen.«
Lachek kommt langsam wie ein Henker auf mich zu, umkrallt meine festgeketteten Unterarme und nähert sein Gesicht dem meinen. Sein Atem riecht sauer und faulig. Der abstoßende Gestank eines alten Mannes, ein Verwesungsgeruch, der seinen Charakter perfekt widerspiegelt – all die geronnene Bosheit, mit der er die Welt jahrzehntelang vergiftet hat. Und da ist noch etwas anderes: Lachek stirbt von innen heraus. Aus irgendeinem Grund bin ich überzeugt davon. Er sitzt nackt auf einem Ameisenhaufen und hat nichts mehr zu verlieren.
»Wissen Sie ...«, rasselt er und zieht jedes Wort in die Länge, »haben Sie auch nur die geringste Ahnung, was ich mit Ihnen machen werde?«
Edorskai lauert am Rand meines Blickfelds. Er ist aschfahl im Gesicht. Das reflektierende Licht taucht die Brillengläser in ein leuchtendes Weiß, wie von der Sonne beschienener Quarz.
»Ihr Sohn.« Ich spreche die Worte so langsam aus wie Lachek und starre ihm in die unnatürlich geweiteten Pupillen. »Ihr Sohn war ein menschliches Exkrement. Aber er war immer noch das Beste, was je aus Ihnen rausgekommen ist.«
Ich erwarte einen Wutanfall. Was folgt, ist viel schlimmer. Er lächelt. Haucht mir weiter seinen ranzigen Atem ins Gesicht, streckt seine lila Zunge heraus und leckt mir über die Wange.
Mein Kopf zuckt unfreiwillig nach hinten und schlägt so hart gegen die hohe Lehne des Stuhls, dass ich Sternchen sehe. Er leckt mich wieder. Diesmal hinterlässt seine Zunge eine schleimige Spur auf meinen Lippen und Nasenlöchern. Ich komme wieder zu Sinnen und will ihm eine Kopfnuss auf seinen pockennarbigen Nasenrücken verpassen, aber er zieht rechtzeitig den Kopf zurück.
Seine grinsende Totenmaske schwebt über mir, gerade außer Reichweite. Speichel läuft an meiner Wange hinunter. Meine Nase und mein Mund fühlen sich kühl an. Ich wische, so viel es geht, mit den Schultern ab.
»Mein Sohn ...« Er zögert, und in dieser kurzen Pause meine ich all seine Enttäuschung darüber zu erkennen, was aus seinem Kind geworden ist. Gleich darauf nimmt sein Gesichtsausdruck etwas Obszönes an. »Er war mein einziger Sohn«, sagt er heiser. »Und Sie haben ihn mir genommen. Ich werde Ihnen Schmerzen zufügen. Unvorstellbare
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