Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
ihn nicht im Geringsten zu stören. »Erzähl schon. Kann doch nicht so schlimm sein. Ich meine, wir halten schließlich zusammen, egal, was kommt, oder?«
Carya warf Pitlit ein schmerzvolles Lächeln zu. »Ich weiß es nicht. Ich kann es nur hoffen.« Stockend beichtete sie dem Jungen, was zwischen Alexandre und ihr vorgefallen war. Und weil sie gerade dabei war, berichtete sie ihm auch von den übrigen Ereignissen, die sich in den vergangenen zwei Tagen seit ihrer Trennung in Orly zugetragen hatten.
Zu ihrer Überraschung unterbrach Pitlit sie nur zwei- oder dreimal. Die meiste Zeit lauschte er stumm, wobei sich seine Miene zusehends verdüsterte. »Was für eine verrückte Geschichte«, meinte er, als sie geendet hatte. »Intrigen, Morde, Liebeswirren … Wenn wir jemals nach Hause kommen, erinnere mich daran, dass ich zu jemandem gehe, der das alles aufschreibt. Da wird bestimmt ein tolles Abenteuerbuch draus.«
»Sehr lustig«, murmelte Carya.
Pitlit rutschte ein wenig auf dem Hosenboden hin und her, so als versuche er, auf der Steinbalustrade eine bequemere Sitzposition zu finden. »Na schön, dann mal ernsthaft: Wieso hast du dich bloß auf diesen Prinzen eingelassen? Ich meine, abgesehen davon, dass er gut aussieht, charmant ist und seinem Vater all das hier gehört.« Er vollführte eine ausladende Geste mit den Armen.
»Ganz ehrlich? Ich kann es dir nicht sagen, Pitlit.« Carya kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. »Es ist, als gäbe es ein unsichtbares Band, das mich zu ihm hingezogen hat. Je häufiger wir uns sahen, desto stärker wurde diese Verbindung.«
»Das nennt man › sich verlieben ‹ , oder?«, warf Pitlit ein.
»Aber eben das ergibt keinen Sinn! Schau mal: Bevor ich Alexandre kennenlernte, war ich vollkommen glücklich. Ich liebe Jonan, und er liebt mich. Es gab keine Risse, unsere Gefühle füreinander wurden nur von Tag zu Tag stärker. Und Alexandre ist verlobt und soll in vier Monaten heiraten. Man sollte denken, dass ihn das auch nicht unbedingt empfänglich für eine spontane Liebe auf den ersten Blick macht.«
»Also, wenn diese Aurelie wirklich so eine Schlange ist, wie du sie mir beschrieben hast, kann ich zumindest den Prinzen verstehen«, antwortete Pitlit. »Ich würde auch alles daransetzen, schnell noch eine andere zu finden, bevor ich die Frau heiraten muss.«
»Du meinst, das ist der einzige Grund dafür, dass er mich umworben hat?«, fragte Carya zweifelnd.
»Kann doch sein.«
»Das glaube ich nicht. Wenn er Aurelie wirklich loswerden wollte, hätte er das auch früher schon gekonnt. Der Palast ist voller junger Frauen. Er brauchte nicht auf eine dahergelaufene Herumtreiberin wie mich zu warten.«
»Auch wieder wahr«, gab Pitlit zu. Er warf ihr einen schrägen Blick zu. »Und was hast du jetzt vor?«
Mit düsterer Miene richtete Carya den Blick auf das nahe Schloss. »Ich muss Jonan finden und versuchen, ihm zu erklären, was geschehen ist. Ich wollte nicht, dass wir uns auf diese Weise wiedersehen. Hoffentlich verzeiht er mir. Und wir müssen uns Cartagena vornehmen. Ich kann es nicht beweisen, aber ich bin sicher, dass er in den Mord an Magister Milan verstrickt ist. Außerdem weiß er mehr, als er preisgibt.«
»Und er will eine Revolte starten – oder so«, fügte Pitlit hinzu.
»Genau. Aber sag mal: Wie ist es euch eigentlich ergangen? Wo kommt ihr auf einmal her, und was sind das für Kleider?«
»Das erzähle ich dir auf dem Weg zurück«, erwiderte der Straßenjunge. Mit einem entschlossenen Satz sprang er von der Balustrade. »Wir haben einiges zu tun.«
»Guten Abend.«
Jonan blickte von seinem Platz auf der Marmorbank auf. Er hatte sich in einen der Flure im Nordflügel des Palasts geflüchtet, der um diese Uhrzeit menschenleer war. Zumindest hatte Jonan das angenommen.
Nun stand auf einmal diese Frau neben der Säule, die sich am Eingang des hohen und breiten Korridors erhob. Sie trug ein elegantes Kleid in Weiß und Gold, das gut zu ihren platinblonden Haaren und der auffällig hellen Haut passte. »Sie sind nicht auf dem Ball?«, fragte sie.
»Nein«, erwiderte er. »Mir ist im Augenblick nicht nach Tanzen – und nicht nach Menschen.«
»Das kann ich gut verstehen«, sagte die Frau. »Mir geht es genauso.« Darauf, dass Jonans Worte auch sie mit einschließen mochten, ging sie nicht ein. Langsam kam sie näher. »Darf ich mich ein wenig zu Ihnen gesellen? Zu zweit lässt sich das Leid der Welt einfacher ertragen als allein.« Ihre
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