Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
habt. Das müsst ihr unter euch aushandeln. Da würde ich nur stören.«
»Ist gut«, gab Carya zurück. Sie drückte die Klinke hinunter, schob die Tür gerade so weit auf, dass sie eintreten konnte, und schlüpfte hindurch.
In dem kleinen Raum, der dahinter lag, stand Jonan vor dem Spiegel und zog sich gerade das Hemd aus. Seine Jacke hing bereits über einem Stuhl neben ihm. Als er die Tür hörte, drehte er sich, das Hemd noch in der Hand, um. »Pitlit, ich habe mir überlegt …« Er brach ab und erstarrte, als er Carya erkannte. »Carya«, brachte er hervor.
»Hallo, Jonan«, begrüßte sie ihn und schloss vorsichtig die Tür hinter sich.
Rasch streifte Jonan das Hemd wieder über, eine einigermaßen absurde Geste, denn natürlich hatte Carya ihn schon mit nacktem Oberkörper gesehen. Vielleicht wollte er ihr den Anblick seines grün und blau geprügelten Körpers ersparen. »Was machst du denn hier?«, fragte er.
Verlegen stand sie im Eingang. »Ist das nicht klar? Ich möchte mit dir über das reden, was du gesehen zu haben glaubst.«
»Was gibt es da zu reden?«, fragte er barsch. Er lehnte sich an die Waschkommode und verschränkte die Arme vor der Brust. »Der Prinz und du, ihr habt euch in den letzten beiden Tagen offenbar sehr gut kennengelernt. Das wurde mir schon berichtet. Bist du gekommen, um mir zu sagen, dass du lieber die zukünftige Kaiserin von Francia werden möchtest, als mit mir durchs Land zu ziehen?«
»Was für ein Unsinn! Jonan, genau das Gegenteil ist der Fall. Ich bin hier, weil ich mich entschuldigen will. Da ist nichts zwischen mir und dem Prinzen. Also gut, das stimmt nicht ganz. Wir sind uns zufällig vorgestern Abend auf dem Flur begegnet, und seitdem hat er mir nachgestellt. Erst habe ich es gar nicht begriffen. Er war nett und höflich, also war ich es auch. Schließlich wollte ich Alexandre nicht verärgern, indem ich ihn abweise. Das wäre mir am Hof seines Vaters doch etwas gefährlich erschienen. Und dann …« Carya zuckte mit den Achseln. »Irgendwie ist das Ganze in eine falsche Richtung gelaufen. Er hat meine Freundlichkeit als Interesse missverstanden und fing auf dem Ball heute Abend plötzlich von Liebe und dergleichem an. Und … ich weiß auch nicht. Er hat mich überrumpelt. Es war ein ganz seltsames Gefühl. Ich liebe ihn nicht. Genauso wenig will ich mein Leben an einem Ort wie Château Lune verbringen. Das musst du mir glauben, denn es ist die Wahrheit.«
»Wenn das so ist, wieso hast du dich dann in seine Arme geworfen?«, fragte Jonan.
»Ich habe mich nicht in seine Arme geworfen«, entgegnete Carya ein wenig gereizt. »Der Kuss ging von ihm aus.«
»Aber du hast dich nicht dagegen gewehrt.«
»Nein, ich … wie soll ich dir das erklären? Ich wollte das alles eigentlich nicht. Wenn du mich eine Minute davor gefragt hättest, ob ich den Prinzen küssen möchte, hätte ich entrüstet abgelehnt. Und trotzdem … es war beinahe wie ein unbewusster Zwang, wie bei zwei Magneten, die sich immer stärker anziehen, wenn man sie zusammenschiebt. Sie müssen sich nicht kennen, sie müssen sich nicht mögen, aber wenn man sie nebeneinanderlegt, zieht es sie zueinander.«
»Du bist kein Stück Metall, Carya«, versetzte Jonan. »Du bist ein Mensch, und nur du bestimmst dein Handeln.« Er hielt inne und blickte sie dann bestürzt an.
Carya erwiderte seinen Blick mit zusammengepressten Lippen. Nein, sie bestimmte ihr Handeln nicht immer. Das wusste sie, und das schien auch Jonan soeben einzufallen. Es gab da etwas in ihr, das gelegentlich die normale Carya zurückdrängte und sowohl Fähigkeiten als auch Wesenszüge zutage förderte, die sie gelinde gesagt erschreckten. Bislang hatte sich dieser Teil von ihr nur in Stresssituationen, im Kampf auf Leben und Tod gezeigt. Aber jetzt, wo sie darüber nachdachte, fragte sie sich, ob nicht auch ihre geradezu widernatürlich starken Gefühle für Alexandre diesem Unbekannten in ihrem Inneren zu verdanken waren.
Jonan seufzte und rieb sich mit der Hand übers Gesicht. »Also schön. Es war nur ein Ausrutscher, und du wolltest es nicht.« Er sah sie an. »Ich nehme deine Entschuldigung an. Aber jetzt würde ich gerne schlafen gehen. Ich habe einen ziemlich harten Tag hinter mir. Pitlit hat dir wahrscheinlich schon erzählt, was bei uns so los war. Deshalb lass uns morgen weitersprechen.«
Das war alles? Entschuldigung akzeptiert und gute Nacht? Das klang in Caryas Ohren noch nicht nach einer Versöhnung. »Jonan …«,
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