Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
hat, die das Mädchen beim Überfall auf das Dorf der Ausgestoßenen misshandeln wollten. Menschen sterben zu sehen, ist für mich nichts Neues. Das habe ich übrigens schon, bevor ich euch kannte. Denn so schön ist das Leben als Straßenkind in Arcadion auch nicht.«
»Jonan.« Carya legte ihm eine Hand auf den Arm. »Lass es gut sein. Irgendwie hat Pitlit doch recht. Er hat wahrscheinlich schon mehr erlebt als wir beide zusammen. Und hier draußen können wir im Notfall jeden Kämpfer brauchen.«
Unwillkürlich musste Jonan grinsen. »Das sollte normalerweise ich sagen.«
Um Caryas Mundwinkel zuckte es. »Du scheinst ein guter Lehrer zu sein.«
»Heißt das, ich darf den Revolver behalten?« Pitlits Blick war auf beängstigende Art hoffnungsvoll.
Jonan nickte ergeben. »Vergiss nur nie, was du da in den Händen hältst. Wenn du einen Menschen umbringst, ist das etwas, das du niemals mehr rückgängig machen kannst.«
»Keine Sorge«, versprach der Junge. »Ich werd schon nicht auf alles ballern, was mir über den Weg läuft. Dafür fehlt mir sowieso die Munition.«
In der Wand, die den Laderaum von der Fahrerkabine trennte, öffnete sich ein Schiebefenster. »Wir erreichen gleich ein Straßenkreuz«, meldete Caryas Mutter. »Könnten Sie kurz schauen, Jonan, ob wir hier abbiegen müssen, um zum See zu gelangen?«
Jonan erhob sich und ging auf schwankenden Beinen zur Fahrerkabine hinüber. Ein Blick durch das Fenster auf die Straße vor ihnen zeigte ihm, dass sie sich ihrem Ziel in der Tat näherten. »Ja, dort vorne müssen wir rechts abbiegen. Dann sind es nur noch ein paar Fahrminuten. Halten Sie nach einem aufgegebenen Ferienort zur Rechten Ausschau.«
Caryas Vater brummte bestätigend.
Kurz darauf erreichten sie das verwitterte Schild, das am Eingang einer Seitenstraße auf das längst verlassene Erholungsgebiet am See hinwies. Grollend bog der Lastwagen ein und rollte bis zu der Landzunge vor, die ins grünblaue, faulig riechende Wasser hineinreichte. Etwa einen Kilometer vom Ufer entfernt ragte der bewaldete Buckel der Insel aus der Oberfläche des Sees, auf der sich die Enklave der Invitros befand. Nirgendwo war eine Menschenseele zu sehen.
Etwas anderes hatte Jonan auch nicht erwartet.
»Parken Sie den Wagen hier«, wies er Caryas Vater an. »Im Ufergebüsch sollte es ein Boot geben, mit dem man zur Insel übersetzen kann … also zumindest lag es bei meinem letzten Besuch dort.« Mit raschen Schritten durchquerte Jonan den Laderaum, sprang nach draußen und nahm sein Gewehr an sich. Er dachte kurz darüber nach und legte es wieder zurück. »Wir kommen als Freunde. Es war schon beim vorigen Mal keine gute Idee, schwer bewaffnet hier aufzukreuzen.«
Carya nickte und ließ ihren Bogen ebenfalls im Fahrzeug, als sie ihm folgte.
Auch Pitlit wollte seinen Revolver aus dem Hosenbund ziehen, doch Jonan hielt ihn zurück. »Warte mal.« Er sah zu Caryas Eltern hinüber, die aus der Fahrerkabine stiegen und sich mit merklichem Unbehagen umschauten. »Es geht nicht, dass wir zu fünft bei den Invitros auftauchen«, fuhr er mit gesenkter Stimme fort. »Zum einen passen höchstens vier Leute in das Boot. Zum anderen wird der einsame Wachposten, der da drüben auf der Insel hockt, vermutlich ziemlich nervös, wenn wir mit einer halben Armee einfallen. Deshalb sollte jemand beim Lastwagen bleiben. Auch um darauf aufzupassen. Caryas Eltern erklären sich bestimmt gerne bereit dazu. Aber ich möchte, dass du ebenso hierbleibst, Pitlit.«
»Och, Mann. Warum ich?«, beschwerte sich der Junge. »Ich will auch die Invitro-Enklave sehen.«
»Weil Caryas Eltern Stadtmenschen sind«, sagte Jonan. »Die haben keine Ahnung, wie es in der Wildnis zugeht. Bei dir sieht das anders aus. Du hast Erfahrungen auf der Straße und im Ödland gesammelt. Du weißt, was zu tun ist, sollte hier sonst irgendjemand auftauchen. Und du hast den Revolver.« Er deutete auf die Waffe in Pitlits Gürtel. »Wolltest du nicht der große Beschützer sein? Jetzt hast du die Gelegenheit dazu. Du passt auf Edoardo und Andetta Diodato auf, während Carya und ich versuchen, herauszubekommen, was es mit den Koordinaten auf sich hat.«
Der Junge machte ein missmutiges Gesicht. »Na gut. Aber beim nächsten Ausflug bin ich dabei und jemand von euch hält Wache.«
»Geht klar. Und eins noch: Sag Caryas Eltern nicht, dass ich dich gebeten habe, auf sie aufzupassen. Sie glauben sicher, dass sie auf dich aufpassen sollen.« Jonan zwinkerte Pitlit
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