Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
Wellen schnitt, aber das machte Carya nichts aus. Sie stand an der Reling zwischen zwei Pollern, schaute hinaus in die Ferne, wo Himmel und Erde im Dunst verschmolzen, und sie fühlte sich frei. Hier gibt es wirklich keine Mauern mehr , dachte sie und musste sich zusammenreißen, um nicht begeistert aufzujauchzen.
Sie merkte, dass sich jemand zu ihr gesellte, und als sie den Kopf drehte, sah sie Jonan. Er lehnte sich mit den Unterarmen auf die Reling und lächelte sie an. Dann reckte auch er Nase und Kinn in den Wind. Keiner von ihnen sagte ein Wort, aber das war in Ordnung. Es gab Momente, die genoss man am besten schweigend.
Carya hatte ihr langes Haar zu einem Zopf geflochten und diesen um ihren Kopf gelegt. So hatte sie hier draußen am wenigsten Schwierigkeiten damit. Einige vorwitzige Strähnen hatten sich jedoch gelöst und wehten ihr ums Gesicht. An diesen vorbei musterte sie Jonan verstohlen.
Er hatte die Lederjacke ausgezogen und die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt, denn trotz der frischen Brise war es ein warmer Tag. Der Wind zerzauste sein dunkles Haar und verlieh ihm, entgegen seiner eigentlich eher ruhigen Natur, ein verwegenes Aussehen. In diesem Augenblick kam er Carya wie einer der leidenschaftlichen Liebhaber aus den Romanen vor, die sie mit Rajael früher immer heimlich gelesen hatte.
Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie es wohl sein würde, wenn sie sich liebten. Bislang war der intimste Moment, den sie geteilt hatten, der Kuss auf dem Dach ihres Hauses im Dorf der Ausgestoßenen gewesen. Zu mehr hatten sie keine Gelegenheit gehabt, denn direkt nach dem Kuss war Carya entführt worden, und im Anschluss an ihre Rettung waren ihre Eltern immer in der Nähe gewesen. Die hatten genau darauf geachtet, dass Caryas unerwarteter Freund sich ihrer Tochter gegenüber anständig benahm – eine gänzlich unnötige Sorge, denn Carya hatte in ihrem ganzen Leben noch keinen jungen Mann kennengelernt, der sie besser und rücksichtsvoller behandelt hätte als Jonan. Er war im Umgang mit ihr geradezu übervorsichtig.
Das hatte sie auch ihrer Mutter gesagt, als diese drei Tage nach der Flucht aus Arcadion Caryas Beziehung zu Jonan in einem zweisamen Mutter-Tochter-Moment zur Sprache gebracht hatte. Carya musste schmunzeln, als sie sich daran erinnerte, dass ihre Mutter Sorge gehabt hatte, sie könne in blinder Verliebtheit etwas Vorschnelles getan haben. »So bin ich nicht«, hatte Carya sie beruhigt. »Und ich glaube auch nicht, dass Jonan das zugelassen hätte. Wir kennen uns doch erst ein paar Tage. Keine Angst: Wir lassen uns Zeit.«
Mit Jonan selbst hatte Carya über diese Frage noch gar nicht gesprochen. Aber sie hatte das Gefühl, dass sie in dieser Hinsicht ähnlich dachten. Es hatte keine Eile. Die Nacht würde kommen, in der sie mit Jonan das Bett teilte, in der sie sich ihm hingab und ihm ihre Unschuld schenkte. In dieser Nacht würden sie ihre Liebe besiegeln.
Doch auch wenn es bis dahin noch dauern durfte, konnte Carya in Augenblicken wie dem jetzigen, in denen Jonan so nah neben ihr stand – so zum Greifen und Küssen nah – nicht verhindern, dass sie sich insgeheim ausmalte, wie es wohl sein mochte. Würde er sanft und zärtlich sein? Oder eher fordernd und ungestüm? Wie würde es sich anfühlen, seine nackte Haut auf der ihren zu spüren? Was würde sie empfinden, wenn seine Hände ihren Körper erforschten und sie dabei überall berührten?
Carya spürte, dass ihre Wangen zu glühen anfingen. Glücklicherweise konnte sie die Röte in ihrem Gesicht auf den Wind und die Sonne schieben.
Erneut wandte Jonan ihr den Blick zu. Ein Ausdruck milder Erheiterung huschte über seine Miene. »Was ist los?«, fragte er. »Du schaust mich so eigenartig an.«
Angriff ist die beste Verteidigung , dachte sich Carya. »Darf ich dich denn nicht anschauen?«
Jonan lachte. »Doch, natürlich. Ich hätte nur nicht gedacht, dass ich gegen den Ausblick, den das Meer bietet, eine Chance habe.«
»Das ist kein Wettstreit«, antwortete Carya. Sie warf ihm einen neckenden Blick zu. »In meinen Augen ergänzt ihr euch ganz wundervoll.«
»Die Wellen und ich?« Jonan hob zweifelnd die Augenbrauen. »Na, ich weiß nicht. Ein Seemann wird aus mir sicher nie werden.« Er ließ seinen Blick über das Deck schweifen und grinste plötzlich. »Ganz im Gegensatz zu dem da.« Er deutete in die Höhe.
Carya hob den Kopf und entdeckte Pitlit, der, wie schon an Land angekündigt, oben im Ausguck des Schiffes
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