Im Schatten des Mondkaisers (German Edition)
stand, und ihr Blick fiel auf einen geisterhaft flackernden Punkt vor ihnen im Wasser. Jetzt erst bemerkte Carya, dass nicht nur tiefe Finsternis herrschte, sondern dass sie auch von dichten Schwaden weißlichen Seenebels umgeben waren.
»Guten Morgen«, begrüßte Hook sie. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Oder so ähnlich.«
»Was herrscht hier für eine Unruhe?«, wollte Jonan wissen.
Hook nickte versonnen auf den Punkt in der dunstigen Finsternis. »Kapitän Denning hat ein Treffen mit der Maersk Titania vereinbart. Wir tanken noch einmal richtig auf, bevor wir durch die Straße von Gibral-Taar in den Atlantik hinausfahren.«
Unter ihren Füßen erzitterte das Deck, als der mächtige Schiffsmotor der Albatros grollend zum Leben erwachte und sie langsam dem Flackern entgegenschob. Wie sich herausstellte, folgte das Flackern einer gleichmäßigen Taktung und war einem starken Scheinwerfer geschuldet, dessen kegelförmiger Lichtfinger durch die Dunkelheit schnitt.
»Ist das ein Leuchtturm?«, fragte Jonan überrascht.
»Nicht ganz«, sagte Hook schmunzelnd.
Am Bug war ein metallisches Krachen zu hören. Als Carya den Kopf drehte, sah sie, dass zwei Männer die Verkleidung von einem Metallkasten heruntergeklappt hatten, unter der ein Geschützstand zum Vorschein kam. Einer der beiden bemannte ihn sofort. Der andere hielt sich in der Nähe einer Munitionskiste bereit.
»Ihr habt nicht vor, gegen diese Maersk Titania zu kämpfen, oder?«, fragte Carya. Die Aussicht, mitten in der Nacht in eine Seeschlacht verwickelt zu werden, behagte ihr gar nicht. Nicht, dass sie ihr um zwölf Uhr mittags angenehmer gewesen wäre.
»Nein, nein, keine Sorge«, beruhigte Hook sie. »Das sind nur Vorsichtsmaßnahmen. Zwischen Port Fuad und Gibral-Taar gibt es keinen Piraten, der sich nicht die Finger nach der Titania lecken würde. Man muss immer mit Angriffen rechnen. Glücklicherweise kämpft man selten allein, wenn man an der Titania festgemacht hat.« Er hob einen Finger und deutete nach vorne. »Und jetzt Augen auf. Da kommt sie.«
Pitlit stieß ein anerkennendes Pfeifen aus. »Licht Gottes«, murmelte Jonan. Carya lief ein Schauer über den Rücken.
Ihr eigenes Schiff, die Albatros , mochte etwa fünfzig Meter lang sein. Damit war sie in Caryas Augen bereits ein recht stattlicher Kahn. In etwa dieser Größenordnung hatten sich auch die anderen Schiffe bewegt, die sie am Hafen von Livorno und der Gorgoneninsel gesehen hatten. Doch keins davon kam auch nur annähernd dem Monstrum gleich, das sich in diesem Augenblick aus Dunkelheit und Nebel schälte.
Die Maersk Titania besaß, ihrem Namen angemessen, buchstäblich titanische Ausmaße. Sie war so groß, dass sich Heck und Bug irgendwo in Nacht und Nebel verloren hätten, wenn die Besatzung nicht oben am weiß gestrichenen Rumpf mehrere Lichtquellen angebracht hätte. Und selbst so fiel es Carya schwer, die Länge und Breite des Ozeanriesen einzuschätzen. Man hatte das Gefühl, die Hand Gottes habe ein ganzes Industrieviertel von Arcadion einfach herausgerissen und, in einen Stahlrumpf gepresst, hier draußen aufs Meer gesetzt.
Neben ihr gluckste Hook. »Genauso habe ich auch geschaut, als ich sie das erste Mal gesehen habe«, sagte er. »Ich weiß noch, dass ich damals eine gute Pfeife verloren habe, weil sie mir aus dem Mund in die Fluten gefallen ist. Und dabei hatte ich sogar noch den Vorteil, mit dem Wissen um solche Biester aufgewachsen zu sein, damals vor dem Sternenfall.«
»Wer braucht denn ein so großes Schiff?«, fragte Pitlit fassungslos. »Da hat ja eine ganze Stadt drin Platz!«
»Oder Hunderttausende Tonnen Rohöl«, antwortete Hook. »Und die Maersk Titania war nur einer von vielen Supertankern, die früher die Ozeane bereisten. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie gewaltig die Warenströme waren, bevor alles zusammengebrochen ist. Und wie gewaltig die Gier der Nationen nach diesen Waren und nach Rohstoffen, etwa dem Öl, war. Es wurden Kriege darum geführt, kein bisschen weniger erbittert als die Kriege, die wir heute führen. Doch heute geht es ums Überleben. Damals kämpften die Menschen um den reinen Luxus. Es war eine absurde Zeit.« Er schüttelte den Kopf.
Das klingt wie das Schlusswort meines Referats, das ich damals in der Unterrichtsstunde von Signora Bacchettona an der Akademie des Lichts gehalten habe , dachte Carya. Vielleicht war doch nicht alles gemeine Propaganda gewesen, was der Lux Dei ihnen über die Vergangenheit
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