Im Schatten des Mondlichts - Das Erwachen - Die Fährte - SOMMER-SONDEREDITION (German Edition)
muslimischen Ländern führe dieser Umstand häufig zu falschen Einschätzungen, was die Jungfräulichkeit anbelangte. Bei ihr würde es spätestens bei der Geburt einreißen.
Das erklärte einiges. Sie hatte sich kurz gewundert, dass nicht ein einziger Tropfen Blut auf den Laken gewesen war, als sie mit Roman geschlafen hatte; auch der viel beschriebene Schmerz war ausgeblieben, aber wirklich Kopfzerbrechen hatte es ihr nicht bereitet.
Laut Arzt sprach auch nichts gegen eine Flugreise, wobei er anmerkte, dass Start und Landung ihren Körper stärker belasteten, als man annehmen mochte. Naomi sei zwar jung und gesund; ein Restrisiko sei aber nicht auszuschließen. Ein Risiko wollte sie keinesfalls eingehen. Sicherheitshalber würde sie die lange Bahnfahrt nach London auf sich nehmen.
Naomi lief weiter, bis die ersten Bäume vor ihr auftauchten. Wo würden sie ihre Beine hinführen? Sie ließ sich treiben, verließ den Waldweg und drang tiefer in den Wald hinein. Die kommende Stunde hoffte sie auf ein Zeichen; bis endlich zwischen den Kiefern eine mächtige Trauben-Eiche vor ihr aufragte. Wie auf der Lichtung in Stillwater stand auch sie etwas abgerückt von den Kiefern und wirkte, als herrsche sie über den Platz.
Der Stamm durchmaß knapp zwei Meter und die dichten Eichenblätter ließen die Gesamthöhe des Baumes nur erahnen. Es war zwar keine Lichtung, aber trotzdem strahlte der Ort eine greifbare Ruhe aus. Naomi ging auf die Eiche zu, strich über die Rinde und setzte sich auf den Waldboden. War es hier? Sie schloss die Augen; lauschte in sich hinein. Ein tiefer Frieden umfing sie, das Gefühl, zu Hause zu sein: in Sicherheit.
Naomi schlug die Augen auf. Wie hatte sie nur einschlafen können? Und wenn sie doch jemand aus dem feindlichen Clan verfolgte? Wie unvorsichtig von ihr. Aufmerksam sah sie sich um. Nichts hatte sich verändert. Nichts deutete darauf hin, von jemandem beobachtet zu werden. Sie fühlte sich immer noch sicher und war überzeugt, den richtigen Platz für ihre Verwandlung entdeckt zu haben. Mit einem Klaps gegen den rauen Stamm verabschiedete sie sich von der Eiche, genauso, wie sie es früher mit der Ulme getan hatte. Obwohl sie nicht sagen konnte, wie sie zu diesem Ort gefunden hatte, da sie ziellos durch den Wald gelaufen war, fand sie problemlos den Rückweg.
Leandra saß auf dem Treppenabsatz und blinzelte in die untergehende Abendsonne. Offenbar wartete sie auf Naomi.
»Und?«, fragte Leandra und sprang auf die Beine. »Hast du ihn gefunden?«
Naomi nickte. »Ich denke schon. Die Frage ist nur, wie komme ich morgen Nacht aus dem Haus, ohne dass Mama etwas bemerkt?«
»Wozu hast du mich?« Leandra drückte Naomis Hand. »Ich werde sie schon austricksen.« Sie zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
Naomi graute davor, sich aus dem Haus schleichen zu müssen; das größere Problem wäre allerdings, im Morgengrauen wieder unbemerkt in ihr Zimmer zu gelangen. Ihre Mutter war Frühaufsteherin und saß beim ersten Tageslicht in der Küche bei ihrer morgendlichen Tasse Kaffee.
»Übrigens, ich habe eine Freundin in London. Emma. Die will ich besuchen, und da ich als alte Frau nicht alleine reisen kann, musst du mich begleiten.«
»Du bist nicht so alt. Das kauft dir Mama nicht ab.« Naomi schüttelte den Kopf. »Und was ist, wenn sie mitkommen will?«
Leandra lachte. »Ich glaube nicht, dass sie mitfahren möchte. Luna verabscheut Großstädte. Sie hat London nie gemocht.« Mit einem Augenzwinkern rieb sie sich über den Rücken. »Außerdem machen mir meine Bandscheiben in letzter Zeit ziemlich zu schaffen.«
»Dann solltest du aber nicht aufspringen, wie eine Zwölfjährige. Wenn Mama das sieht, glaubt sie dir kein Wort.« Naomi ging an ihrer Großmutter vorbei in die Küche.
»Luna ist mit einer Freundin ausgegangen und sieht sich im Kino die Spätvorstellung an.« Leandra folgte ihr. »Also muss ich die Leidensmiene erst später aufsetzen.«
Naomi holte sich eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank und seufzte. »Hätten sie sich nicht morgen diesen Film ansehen können?«
Sie zog die Stirn kraus. Wenn sie doch nur eine eigene Wohnung hätte. Oder wenigstens ein Zimmer im Erdgeschoss. Dann könnte sie durchs Fenster ausreißen. »Ich gehe duschen und lege mich ein paar Minuten hin. Ich bin total erledigt. Wenn dir einfällt, wie ich verschwinden kann, sag mir Bescheid. In solchen Sachen bist zu offensichtlich einfallsreicher, als ich.« Sie küsste Leandra auf die Wange und lief
Weitere Kostenlose Bücher