Im Schatten des Mondlichts - Das Erwachen - Die Fährte - SOMMER-SONDEREDITION (German Edition)
nahm Anlauf, sprang ab, fuhr ihre Krallen aus und schlug sie in die Rinde. Mit vier Sätzen hatte sie den unteren Astkranz erreicht. Sie kletterte weiter nach oben, bis die Zweige unter ihrem Gewicht knackten und zu brechen drohten. Über ihr Gleichgewicht erstaunt, blieb sie reglos in den Ästen stehen und sah sich um. Der Schein des Vollmonds drang durch die Baumwipfel. Der Stamm einer Birke schimmerte silbern im Mondlicht und der Wind bewegte die Blätter, dass es den Anschein erweckte, als würde der Baum zittern.
Naomi genoss das friedliche Schauspiel, bevor sie sich zum untersten Kranz hinabarbeitete. Jetzt kam der Abstieg. Immer noch fiel ihr der Rückweg sehr schwer. Sie krallte die Vorderpranke in den Ast, drehte sich um und ließ ihren Körper rückwärts am Stamm hinabgleiten. Die Krallen der rechten Vorderpfote trieb sie in den Baumstamm. Im Wechsel löste sie die Klauen der Vorderpfoten, nur um sie weiter unten wieder ins Holz zu treiben. Für die letzten zwei Meter musste sie sich umdrehen. Eine schnelle Wende hatte Kai ihr geraten. Durch ihre linke Schulter zuckte ein beißender Schmerz, und sie zog unkontrolliert die Krallen ein. Prompt verlor sie den Halt. Sie versuchte zu wenden, um sich mit den Hinterpfoten vom Stamm abstoßen zu können – und schaffte es nicht.
Die Hinterläufe standen zu schräg und der Sprung gelang ihr nur unpräzise. Sie bemühte sich mit dem Schwanz zu steuern, was ihr insofern glückte, dass sie wenigstens mit der unverletzten rechten Vorderpfote zuerst aufschlug, die dadurch den härtesten Stoß abfing. Trotzdem überschlug sie sich, bevor sie zum Stehen kam.
Nun schmerzten beide Schultergelenke. Sie rollte sich zusammen und leckte sich über die rechte Schulter. Die leichte Massage lockerte die Muskulatur. Naomi war klar, dass sie heute keine großen Sprünge mehr vollführen konnte. Sie hatte sich übernommen und musste sich ausruhen. Das Dickicht würde ihr Schutz bieten, bis der Morgen graute und sie nach Hause konnte. Wenn ich doch nur nicht alleine hier wäre, dachte sie, und starrte missmutig vor sich auf den Waldboden.
Der Himmel färbte sich purpurn, als die ersten Sonnenstrahlen das Nachtblau vertrieben. Naomi fühlte sich ausgelaugt, und ihr ganzer Körper schmerzte von der ungewohnten Anstrengung. Sie stand auf und holte ihre Kleidung, um sich anzuziehen. Beim Überstreifen des Sweatshirts füllten sich ihre Augen mit Tränen. Das Gefühl der Einsamkeit setzte ihr mehr zu, als das Stechen zwischen ihren Schulterblättern. Wie sollte sie sich verbessern? Wie mehr über die Clans erfahren? Mit dem Ärmel wischte sie sich die Tränen fort.
Auf dem Rückweg überlegte sie, wie Leandra es anstellen wollte, sie unbemerkt in ihr Zimmer zu schmuggeln. Der Wald blieb hinter ihr zurück, und die Heidegräser boten ihr keinen Schutz vor neugierigen Blicken, als sie sich über den Feldweg dem Haus näherte. Die knirschenden Kieselsteine unter ihren Füßen lärmten in ihren Ohren mit jedem Schritt.
In der Küche brannte Licht. Luna musste bereits wach sein. Naomi verharrte einen Augenblick. Wenn die Haustür unverschlossen war, könnte sie so tun, als sei sie eben aufgestanden, um joggen zu gehen. Es wäre eine lahme Ausrede, zumal sie todmüde war. Aber zur Not würde es klappen. Etwas mutiger ging sie durch die Gartenpforte. Die Eingangstür schwang auf und Leandra erschien im Türrahmen. Sie legte den Zeigefinger auf ihre Lippen und bedeutete ihr, nach oben zu schleichen. Naomi folgte ihrer Anweisung. Ohne zu zögern, tapste sie hoch und schloss leise ihre Zimmertür. Eine heiße Dusche und einige Stunden Schlaf. Dann wäre sie gewappnet für die kommende Nacht.
*
Zur gleichen Zeit suchte Sammy nach Naomi. Er wollte sie finden, um sie zu töten. Sie und Roman. Wäre Roman in jener Nacht nicht aufgetaucht, wäre Naomi bereits tot. Er galoppierte um die Lichtung, doch niemand war zu sehen. Wo steckte sie? Es gab nur diesen einen Platz. Naomi lebte alleine hier in diesem verlassenen Winkel in Maine, und er hätte leichtes Spiel. Auch wenn er noch unter seinem letzten Tod litt – sie hätte keine Chance gegen ihn.
Die Stelle, wo Roman den Ast in ihn hineingestoßen hatte, schmerzte ihn, sobald er nur daran dachte. Ein Mensch hatte ihn besiegt!
Er musste handeln. Schnell. Bevor der Clan Hilfe schickte. Er rannte um die Lichtung, hielt die Nase in den Wind. Nichts. Keine Spur. Nur um sicherzugehen, trabte er, die Ohren aufgestellt, sogar zu der Höhle,
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