Im Schatten des Münsters - Buthe, H: Im Schatten des Münsters
»Was habe ich gestern noch gesagt? Sie sind mein Zeuge!« Er senkte die Stimme und grollte mir zu: »Das war dieser Nazi. Ganz bestimmt. Kann es nur nicht beweisen.«
Ich hatte keine Lust, in diesen Krieg hineingezogen zu werden, und beschloss, eine Kleinigkeit beim Türken zu essen. Der hatte sich an dem fraglichen Abend als der Unbeteiligtste gezeigt.
Er verfügte nicht über einen mit Blumentrögen abgegrenzten Vorplatz. Einfache Stehtische mit einem Sonnenschirm in der Mitte verdeutlichten seine Geschäftspolitik und wohl auch die Art seiner Kundschaft.
Das Lokal war kleiner als die übrigen und von einfacher Funktionalität. Nichts, was einen Gast länger als nötig halten wollte. Eine Glasvitrine mit Sesambrot, gefüllt mit Salaten, der obligatorische Kebabspieß. Ein Spiegelregal mit Spirituosen und Gläsern, eine Schankanlage.
Ich bestellte ein gefülltes Fladenbrot und ein Bier.
Erst jetzt erkannte er mich. »Guten Tag, mein Herr. Schön, dass Sie mal vorbeischauen. Ist eine Menge los heute.« Er deutete mit dem Fleischmesser in Richtung des Kroaten.
Er schenkte mir einen Arak ein. »Bitte nicht zu dieser Tageszeit«, wehrte ich ab.
»Doch. Es ist Brauch so. Ein neuer Gast muss begrüßt werden. Trinken Sie nur, wärmt den Magen vor. Ist ein Blödsinn, dass man Schnaps nach dem Essen trinkt. Vorher kann er wirken, nicht wenn der Magen schon voll beschäftigt ist. Dann ist es zu spät.«
»Haben Sie keine Angst vor Repressalien?«, fragte ich mit halb vollem Mund.
Eine Horde Halbwüchsiger stürmte herein und bestellte Kebab mit Majo und Cola.
»Nein«, antwortete er, während er die Jugend bediente. »Warum sollte ich? Ich bin hier das kleinste Glied, und was wollen die mir schon tun? Mir meine paar Tische umwerfen? Mich bedrohen? Lachhaft. Ich muss hiermit mein Geld verdienen, der Rest geht mich nichts an. Und das wissen die.«
»Nein, ich meine vonseiten der Bank, wenn Sie die Preise nicht anheben?«
Er überlegte einen Moment. »Es geht Sie zwar nichts an, aber ein Geheimnis ist es auch nicht. Ich zahle, was ich an die Verwaltung zu zahlen habe, bar bei der Sparkasse ein. Mehr nicht. Ich will mit denen nichts zu tun haben. Hat es geschmeckt?«
Er kritzelte einen Betrag auf einen Brauereiblock und schob ihn mir hin. Damit betrachtete er das Gespräch als beendet.
Beim Kroaten waren die Männer immer noch mit dem Aufstellen der Schirme beschäftigt.
Aus dem Münster glaubte ich Orgelklänge zu hören und betrat es durch die Südpforte. Der Tonfolge nach übte jemand, ohne ein zusammenhängendes Stück erkennen zu lassen. Ich schlich die Stiegen zur Empore hinauf und schaute über den Rand der obersten Stufe.
»Kannst du Orgel spielen?«, fragte ich das Mädchen.
Lisa schaute erschrocken vom Spieltisch hoch.
»Sie sind das«, klang es fast enttäuscht.
»Warum bist du nicht auf der Beerdigung?«
Sie zog alle Register und ließ die Orgel aufheulen, dass sich die Kirche in einen schmerzhaften Resonanzraum verwandelte.
»Ich will nicht ... und ja, ich kann Orgel spielen. Opa hat es mir beigebracht.« Sie klang trotzig und traurig zugleich. »Wo sind Otto und Fritz?«
Ich beruhigte sie, dass beide bald wieder am Marktplatz sein würden.
»Warum sollte ich deiner Mutter nichts davon erzählen?«
Sie entlockte den Pfeifen leisere Töne. »Mami will das nicht. Sie sagt, Otto sei schmutzig und ein Ungeheuer, eine Ausgeburt der Unterwelt ... glaubst du das auch?«
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Was verstehst du unter ›Unterwelt‹?«
Sie zuckte mit den Schultern und warf ihr blondes Haar in den Nacken. »Weiß nicht. Was Unheimliches eben.«
»Findest du Otto unheimlich?«
Sie presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Nö. Soll ich dir was vorspielen? Ich kann auch die Noten.«
»Darfst du denn überhaupt hier spielen?«
»Mann, bist du doof. Wenn Opa krank war, habe ich für ihn gespielt. Hat keiner gemerkt. Na ja, fast keiner.«
Mein Lachen hallte vom Gewölbe zurück.
»Was spielst du mir denn?«
»Eine Bach-Fuge. Die mochte Opa.«
Es war nicht nur ein Hörgenuss, es war auch eine Augenweide, wie die Kleine ihren ganzen Körper am Spieltisch einsetzte. Wenn die Partitur es verlangte, aber ihre Beine zu kurz waren, die Fußpedale zu bedienen, behalf sie sich halb stehend wie eine Stepptänzerin auf der Bühne. Von einem Fuß auf den anderen hüpfend.
»Bravo«, klang es von der Stiege. »Sehr gut. Aus dir wird noch eine große
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