Im Schatten des Münsters - Buthe, H: Im Schatten des Münsters
und er dabei war, eine Partitur eines Werkes von Pachelbel zu modernisieren.
Ein langgezogener Name hallte durch das Gewölbe, brach sich an den Pfeilern und schwang nach.
Ich beugte mich über die Empore und sah eine Gestalt, die Taschen oder Tüten schleppte, und dabei fast unter der Last zusammenbrach.
Eine weitere Gestalt eilte mit großen Schritten auf sie zu und brüllte ein zweites Mal: »Ottoooo ...«
Der Gerufene blieb stehen, setzte die Beutel ab, richtete sich aber nicht auf, sondern blieb auch ohne die Last mit fast rechtwinklig vorgebeugtem Oberkörper stehen.
Der Rufer erreichte die abgewinkelte Gestalt, die sich nicht von der Stelle bewegte, übergoss sie mit einem Wortschwall, nahm die abgesetzten Beutel, stürmte zur Nordpforte, stieß sie mit dem Fuß auf und warf alles hinaus.
Es folgten ein paar unwirsche Worte, dann war er wieder in der Tiefe des Chors verschwunden.
Der Gescholtene setzte sich in eine Bank, zog etwas aus der Tasche, biss davon ab und spuckte es in den Kreuzgang.
Der Professor hatte sich von seinen Noten erhoben, schaute kurz über die Brüstung und schüttelte den Kopf.
»Otto und der Küster. Das ist deren ewiger Kleinkrieg.«
Er sah meinen fragenden Blick.
»Na ja. Man kann es dem Küster nicht verdenken. Er hat in diesem alten Gemäuer schon genug mit Ungeziefer zu kämpfen. Wenn hier jeder seinen Unrat hereinschleppen würde, dann ...«
»Was meinen Sie damit ... Unrat und Kleinkrieg?«
Der Professor seufzte.
»Bei schlechtem Wetter bringen die Touristen ihre Bratwürste und Pommes frites herein und hinterlassen ihren Müll in den Bänken. Die Kirchgänger beschweren sich über mit Senf und Ketchup verschmierte Sitze. Dann kommt noch dieser Otto mit seinen Abfällen. Da kann einem schon mal der Kragen platzen.«
Er versuchte sich wieder auf die Noten zu konzentrieren.
»Nein. Bei diesen Störungen geht das nicht. Ich bin völlig aus dem Konzept.« Er stand auf und griff seinen Mantel. »Kommen Sie. Ich mache eine Pause. Ich lade Sie zu einem Wein ein.«
Ohne eine Zustimmung von mir abzuwarten, kletterte er die Stiege hinunter.
Wir verließen das Münster durch die Pforte, durch die ich gekommen war, und steuerten das Gasthaus an, in dessen Biergarten ich die Tage zuvor das Markttreiben beobachtet hatte.
Er hieß mich neben sich an einem runden Tisch Platz zu nehmen, der mit einem übergroßen Aschenbecher und einem schmiedeeisernen Schild als Stammtisch ausgewiesen war.
Nachdem wir mit einem heimischen Rotwein angestoßen hatten, blickte er versonnen in den Regen hinaus. Die Händler waren dabei, ihre Stände abzubauen.
Der Professor schaute auf seine Uhr. »Gleich müsste er kommen. Er hat was aufzuholen.«
»Wer hat was aufzuholen?«
Ohne seinen Blick von der Uhr zu nehmen: »Otto. Man kann die Uhr nach ihm stellen.«
»Wer ist dieser Otto?«
Er schaute wieder aus dem Fenster. »Da, sehen Sie selbst. Da kommt er.« Triumphierend schaute er mich an und deutete auf das Zifferblatt. »Genau mit Glockenschlag.«
Was ich da über das Pflaster wanken sah, vermochte in mir nicht das geringste positive Gefühl zu wecken. Ein vom Leben und seiner Krankheit gezeichneter Mann schleppte Plastiktüten, die mehrfach mit Pflaster am Auseinanderfallen gehindert wurden. Auf seinem tief gebeugten Kopf saß er eine abgewetzte Schirmmütze, von der der Regen rann. Über einem zerschlissenen Pullover trug er eine zerfetzte Wolljacke, seine Beine steckten in einer mit Lederflecken reparierten Cordhose. An den Füßen hatte er klobige Stiefel.
»Können Sie sich vorstellen, dass dieser Mann einigen Leuten noch verdammt viel Ärger machen wird?«
Der Professor schenkte uns Wein nach.
Ich schüttelte den Kopf. »Warum sollte dieser ... na ja, Krüppel jemandem Ärger machen. Der ist doch froh, wenn ihm keiner was tut.«
Er kniff die Augen zusammen, als konzentriere er sich auf sein Inneres, schlürfte hörbar einen Schluck Wein und heftete dann den Blick fest auf mich.
»Wollen Sie das wirklich wissen?«
»Ich bin Journalist.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich kenne nur Journalisten, die etwas interessiert, wenn es bereits passiert ist. Dann erst stürzen sie sich drauf wie die Geier aufs Aas. Sind Sie auch so einer?«
Ich überlegte, ob es einen Sinn hatte, dieses ewige Vorurteil gegen meine Berufsgruppe entkräften zu wollen. Gegen die Bilder in den Köpfen der Nutzer unserer Tätigkeit war nicht anzukommen. Für sie war jeder Journalist ein Spanner, ein
Weitere Kostenlose Bücher