Im Schatten des Münsters - Buthe, H: Im Schatten des Münsters
eines Angriffs zu erahnen. Vielleicht zeigte der Unbekannte sogar seit geraumer Zeit sein Gesicht,ohne dass es bisher jemand gemerkt hatte.
Ich überlegte, Gerda auch zu ihrer Schwester zu schicken, verwarf es aber wieder. Ihr Verschwinden würde die Gegenseite als Eingeständnis auffassen können, dass wir zu viel wussten.
Es gab nur eine Möglichkeit. Die Spur auf mich zu lenken.
»Kannst du mir – uns – diese Schriften in ein vernünftiges Deutsch übersetzen und in den Computer nehmen?«
Sie sah durch mich hindurch, als liefe vor ihrem inneren Auge ein Film ab. »Das bringt doch nichts. Wir geben die Dokumente der Kirche zurück. Ich will keinen Ärger und nicht dauernd in Angst leben.«
»Ja, ich gebe die Dokumente zurück. Aber erst brauche ich eine lesbare Abschrift. Wer weiß, wozu das noch gut sein kann.«
Sie seufzte. »Na gut. Sonst gibst du ja keine Ruhe. Dann schälst du jetzt die Kartoffeln weiter.«
Diese Übersetzung war verständlicher als die staksige Interpretationvon Giacco.
»Es ist nicht nur das alte Italienisch«, erklärte Gerda, »es ist auch die umständliche Ausdrucksweise einer Doktorarbeit. Wer nicht wenigstens die geschichtlichen Hintergründe kennt, kommt zu einer falschen Deutung.«
Versteck, Orgel ,schoss mir durch den Kopf.
»Woher wusstest du, dass dein Vater diese Blätter in der Orgel versteckt hatte?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass Vater ein Versteck hatte, in dem er manchmal ... na ja, Sachen zwischenlagerte, die er nicht im Haus haben wollte.«
»War da noch mehr drin?«
»Ja. Etwas Persönliches. Aber das tut nichts zur Sache.«
Die nächsten Stunden vertiefte ich mich in die Gedanken eines seit mehr als hundertfünfzig Jahren verstorbenen Doktoranden.
Mit einem hatte Pater Lutz recht gehabt: Die Dissertation stand im krassen Gegensatz zum Selbstverständnis der damaligen Zeit. Es war ein Aufruf zur Revolution und eine Anklage gegen Adel und Klerus.
Neben den üblichen Aufrufen zur Veränderung, weil ... und durch ..., die sich kaum von denen neuzeitlicher Versuche unterschieden, waren die geschichtlichen Details, die als Beweisführung zum Zwang der Änderung dienten, interessant.
Demnach hatte der Herzog von Modena, der Stadt und Land 1801 für den Verlust seines Stammsitzes an die Franzosen als Lehen erhalten hatte, umgehend große Teile der Liegenschaften an einen Marchese d’Este verkauft.
Diese Adelslinie war aber gemäß Geschichtsschreibung seit 1597 in direkter Linie ausgestorben und tauchte erst 1814 wieder mit Franz IV. als Herzog von Österreich-Este auf.
Da ein Marchese nur ein mittelständischer Adeliger war, der in seinen Befugnissen mehr zum Landadel gehörte, konnten diese Linien nicht identisch sein.
Dieser Marchese wurde im Zusammenhang mit Ausbeuterei, Sklaverei und rücksichtsloser Verteidigung seines Eigentums bis in das Jahr 1847 als typisches Beispiel für das zu bekämpfende Establishment erwähnt. Er musste im wahrsten Sinn des Wortes gegen Gott und die Welt prozessiert haben.
Es folgten, stellvertretend für die gesamte Herrscherschicht, Beispiele von Gräueltaten, gegen die die Mafia ein Wohltätigkeitsverein war.
Dieser Marchese konnte die namenlose Linie sein, die der Professor in den Stammbaum gezeichnet hatte. Eine Bastardlinie, die von der Geschichte verschwiegen wurde.
Um endlich einen Sinn in die Vorgänge zu bringen, musste ich diese Theorie als Faktum ansehen. Dadurch bekam der namenlose italienische Anwalt einen Platz im Spiel.
Gerda schaute fragend mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Glaubst du mir endlich, dass das alles keinen Sinn ergibt und wir es dabei belassen sollten?«
Ich brummte zustimmend, war aber mit meinen Gedanken dabei, die Situation auseinanderzunehmen, neu zu ordnen und wieder zusammenzusetzen.
Este . Die Recherchen im Internet hatten keine weiteren Erkenntnisse gebracht.
»Wo willst du noch hin?«, fragte Gerda.
»Die Blätter zurückbringen«, versuchte ich mein Vorhaben zu verschleiern.
Mein Verfolgungswahn hatte sich in Forschheit verwandelt. Wenn ich den Köder spielen wollte, dann musste ich mich in der Öffentlichkeit zeigen, dem großen Unbekannten zeigen, dass ich das Gesuchte besaß.
Mit der Straßenbahn fuhr ich zur Universitätsbibliothek, kopierte die Originale und begann in alten Lexika zu suchen. Im Brockhaus von 1953 wurde ich fündig. Mit einem einzigen Satz wurde erwähnt, dass es tatsächlich diesen Bastardzweig gegeben hatte,
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