Im Schatten des Münsters - Buthe, H: Im Schatten des Münsters
gehörte? Oder brauchten sie ihn als Spiegelbild ihres eigenen Wohlergehens, wie einen Clown, der sich zum Gespött des zahlenden Publikums machte, damit er überleben konnte?
Dass sich Otto rein körperlich nicht wehren konnte, reizte die Herrscher der Verkaufsstände, ihm auf ihrem angemieteten Terrain Schmerzen zuzufügen, die niemand zur Kenntnis nehmen konnte außer dem Opfer.
Ein Gezeter hinter der Espresso-Maschine riss mich aus meinen dumpfen Betrachtungen. Die lautstarke Diskussion wurde in einer Mischung aus Italienisch und Deutsch geführt. Soweit ich es mitbekam, ging der Disput um neue Gebühren und eine schon wieder höhere Miete für das Café. Der mir nichts sagende Name einer Gesellschaft wurde mehrfach als Hauptschuldiger genannt.
Meine Gedanken schweiften wieder zu diesem Otto ab, der einerseits mein Mitleid erweckte, andererseits meinem Kobold, wie ich meinen Instinkt nannte, keine Ruhe ließ.
Ich musste nochmal versuchen, den Professor von der Ernsthaftigkeit meines Interesses zu überzeugen.
Ich betrat das Münster durch die Nordpforte. Dieses Mal strahlten die bunten Fenster im Sonnenlicht und verliehen dem Innenraum die freudige Verspieltheit, die sich die Bauherren erdacht hatten. Wenn die Orgelpfeifen gestern eine strenge Hoheit ausgestrahlt hatten, so glänzten sie heute wie begehrenswertes Silber.
Ich stieg zur Empore hinauf und war enttäuscht. Der Spieltisch war verwaist.
Ich machte mich auf die Suche nach dem Küster, denn der musste wissen, wo der Professor zu erreichen war. Aber auch der Küster war wie vom Boden verschluckt.
Ärger kam in mir hoch. Warum hatte ich mir nicht den Namen gemerkt? Er hatte sich vorgestellt. Aber außer Professor hatte ich mir nichts gemerkt.
»Typisch deutsch«, knurrte ich mich an. Der Titel steht für alles. Namen sind Schall und Rauch. Mir blieb nur die Hoffnung, dass der dicke Wirt vom Stammtisch seinen Namen wusste.
Bevor ich den Chor durchquert hatte, betrat Otto die Kirche. Er schien dieses Mal besonders gut gesammelt zu haben. So schnell er konnte, strebte er dem Südportal zu. Jetzt verstand ich. Er nutzte den Weg durch das Münster als Abkürzung, um zu seinem Karren zu kommen.
Ich schaute mich um, ob sich jetzt vielleicht der Küster zeigen würde. Aber es tat sich nichts.
Der Stammtisch im Gasthaus war mit älteren Herren besetzt. Ich war unschlüssig. Als Fremder hatte ich ohne Vertrauensperson nichts an diesem Tisch zu suchen. Ich fragte die Bedienung, ob der Wirt da sei. Sie schüttelte den Kopf. Geschäftlich außer Haus. Rückkehr ungewiss.
Ich setzte mich an einen Tisch in der Nähe des Stammtisches und bestellte einen Rotwein. Das Gespräch der Männer drehte sich um den Tod einer Person. Soweit ich entnehmen konnte, war dieser Mensch überraschend gestorben. Ein Name fiel ... Solvay. Genau. So hatte sich der Professor vorgestellt.
»Entschuldigung«, mischte ich mich ein, »meinen Sie Professor Solvay, den Organisten?«
Das Gespräch verstummte, bis der wohl Rundenälteste wieder anhob.
»Kannten Sie ihn? Ist gestern gestorben. Ganz plötzlich. Unfall.«
Dann schwieg man wieder, und ihre Blicke sprühten die Aufforderung: Verschwinde! Du hast hier nichts zu suchen.
Es wurde schon dunkel, als ich in der Pension ankam. Gedankenvoll oder gedankenlos hatte ich den Weg zurückverfolgt, den ich heute Morgen gekommen war.
Frau Gerster legte mir beim Abendbrot die Stadt-Nachrichten zum Gedeck. Auf der ersten Seite prangten das Foto und der Artikel zum Tod von Professor Solvay.
Demnach war er von einer Straßenbahn überrollt worden. Der erste ernsthafte Unfall seit dem Bestehen dieses Verkehrsmittels in dieser Stadt. Es folgten die üblichen Erklärungen der Offiziellen, den Unfall genauestens zu untersuchen ...
Nichts über das Schaffen und Wirken des Verstorbenen. Der Tote wurde totgeschwiegen.
»Schade«, murmelte Gerster, der mir über die Schulter geschaut hatte und mit der Flasche Obstler wedelte, »jetzt werden wir nie mehr erfahren, was das Mysterium vom Münsterplatz ist.«
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als sei ihm der Tod des Professors genau zur richtigen Zeit gekommen.
»Mysterium?«, wiederholte ich. »Was meinen Sie damit?«
Er schenkte zwei Schnäpse ein. »Na ja, diese Spinnerei vom Professor, dass der Münsterplatz jemand anderem gehört, der sich eines Tages sein Recht zurückholen kommt.«
»Was für ein Recht? Wem gehört er denn jetzt?«
»Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen
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