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Im Schatten des Münsters - Buthe, H: Im Schatten des Münsters

Titel: Im Schatten des Münsters - Buthe, H: Im Schatten des Münsters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hef Buthe , luebbe digital
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kommt gelegentlich vorbei, wenn mein Mann nicht da ist. Er bittet dann um eine Flasche Schnaps. Ich glaube, er reibt sich damit ein, denn wenn ich ihm einen einschenken will, lehnt er ab. Ja, und dann gebe ich ihm gelegentlich die abgetragenen Hemden und Pullis meines Mannes. Was gibt es noch zu sagen ...?« Sie suchte mit rollenden Augen an der Decke. »Er ist sehr höflich. Man könnte meinen, er käme aus einem besseren Haus. Das war’s. Mehr fällt mir nicht zu ihm ein. Nur dass er ein armes Schwein ist.«
    Ehrliches Bedauern schwang in ihrer Stimme mit.

2

    Der Tag versprach seine schlechte Laune vom Vortag wettmachen zu wollen. Die Landschaft sah in der spätsommerlichen Sonne wie geputzt aus. Da die Schnäpse wider Erwarten keine Spuren bei mir hinterlassen hatten, beschloss ich zu Fuß in die Stadt zu gehen.
    Frau Gerster beschrieb mir den Weg und war nicht davon abzubringen, mir ein Butterbrot einzupacken. Ich fühlte mich in meine früheste Schulzeit zurückversetzt, wenn Mutter sich mehr Sorgen darüber gemacht hatte, dass ich nicht verhungerte, als über die Noten.
    Insgeheim hatte ich gehofft, Otto zu treffen. Laut Frau Gerster war dies der direkte Weg, und er würde bei seinem Gebrechen unnütze Wege vermeiden.
    Er musste jedoch schon sehr früh aufgebrochen sein, denn ich fand ihn unter den Arkaden im Gespräch mit dem blonden Mädchen, das eine Schultasche auf dem Rücken trug. Ich suchte mir im Biergarten einen Platz, von dem aus ich die beiden beobachten konnte.
    Ich musste Frau Gerster beipflichten. Der Mann war wirklich ein armes Schwein. Seine Krankheit zwang ihn, in extrem gebeugter Haltung durchs Leben zu staksen. Wenn er mit jemandem redete, so wie er es mit dem Mädchen tat, musste er den Kopf zur Seite drehen und von unten hoch sprechen. Das Gesicht eines größeren Menschen konnte er aus dieser Position und Distanz nicht sehen. Wie schlief dieser Mann nur? Wie ein halb aufgeklapptes Taschenmesser, ohne die Chance, sich jemals wohlig zu strecken.
    Seine Kleider wirkten im Sonnenlicht noch schäbiger, als ich sie gestern im Regen und durch das Gasthausfenster zu erkennen vermocht hatte. Er trug drei Pullis übereinander, von denen jeder durch die Löcher des anderen schimmerte. Der linke Ärmel seiner schmuddeligen Jacke gab das Innenfutter am Ellenbogen frei, der rechte löste sich am Saum auf. An den Stiefeln lagen die stählernen Sicherheitskappen frei. Die Hose hatte er mit Paketband anstatt einem Gürtel gesichert.
    Es ging mir nicht in den Kopf, dass eine solche Stadt nicht mehr für einen Bürger tat. Wenn er sich schon von Abfällen ernährte, dann gebot es doch der Anstand, ihm wenigstens mit Kleidung zu helfen.
    Vom Münster erklang der Zwölfuhrschlag. Otto streichelte dem Mädchen die Wange und machte sich daran, die Tüten aus dem Wagen zu klauben. Sein Körper verschwand hinter den aufgetürmten Waren der Händler, und ich konnte seine Position nur an der Reaktion der Käufer feststellen, die angewidert einen Schritt zurücktraten, wenn er den Abfall zu ihren Füßen auflas.
    Ich folgte ihm. Bei seinem durch die eingeschränkte Beweglichkeit begrenzten Gesichtsfeld war es ihm kaum möglich, mich zu entdecken.
    Ich fand ihn am Stand für Südfrüchte – besser, ich fand ihn darunter. Auf den Knien kroch er zwischen den leeren Kisten herum und prüfte, was von den unverkäuflichen Bananen, Orangen und Ananas für ihn noch verwertbar war. Das reinigte er, mehr aus Reflex, an seiner Jacke und steckte es in eine der Tüten.
    Wenn er den Beinen des Verkaufspersonals zu nahe kam, setzte es Tritte, die seiner eingeschränkten Atemtätigkeit zusätzlich die Luft nahmen. Wie bei einem Boxer, der Leber-und Nierenschläge erhielt.
    Es dauerte eine Weile, bis er sich danach wieder auf den Beinen hatte. So kämpfte er sich nach einem von mir nicht durchschaubaren Konzept mal unter dem Gemüse-, mal unter dem Kartoffelstand hindurch. Auch die Abfallkörbe der Wurststände blieben nicht unbeachtet. Die mit Majo oder Senf verschmierten Wurst- und Brotreste wanderten in eine eigene Tüte.
    So umrundete er langsam das Münster im Uhrzeigersinn.
    Ich hatte genug gesehen und suchte mir einen Platz in einem Café. Mein Gefühl schwankte zwischen Depression und Wut. Wie war es möglich, dass die Gesellschaft es zulassen konnte, dass sich ein Mensch derartig in der Öffentlichkeit erniedrigen musste? War sie schon so abgestumpft, dass sie es als gegeben hinnahm, weil dieser Mann schon zum Stadtbild

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