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Im Schatten des Schloessli

Im Schatten des Schloessli

Titel: Im Schatten des Schloessli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Kahi
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der Stelle.
    «Ich bin ein gutmütiger Mensch, aber einmal ist auch meine Geduld erschöpft. Würden Sie jetzt bitte in die Küche gehen und diesen verdammten Brief schreiben!»
    Johannes lächelte milde. «Ich bin ein Werkzeug Gottes. Ich schreibe nur, wenn SEIN Wort direkt an mich ergeht.»
    Geigys Finger krampften sich um den Papierbogen. «Wir werden nicht eher von hier verschwinden, als bis Sie entweder Ihren Mund aufgemacht oder diesen Brief geschrieben haben.»
    «Ich sage euch das, weil ihr am Jüngsten Tag Rechenschaft ablegen müsst über jedes unnütze Wort, das ihr geredet habt. Eure Worte sind der Massstab, nach dem ihr freigesprochen oder verurteilt werdet», rezitierte Johannes leise. «Die ganze Welt ist in der Gewalt des Teufels. Als listige Schlange hat er sie zum Bösen verführt. Gottes Gebot hingegen ist rein. Ich schreibe nur, wenn SEIN Wort direkt an mich ergeht.»
    «Jetzt reicht’s! Beten Sie zu Gott, dass sein Wort Sie erreicht, bevor wir Sie mit einem Haftbefehl ins Polizeikommando karren und mit unseren Mitteln zum Schreiben bringen», rief Geigy mühsam beherrscht. Bevor er aus dem Zimmer stürmen konnte, hielt ihn Unold am Arm zurück. «Johannes war doch einige Zeit in der Psychiatrischen. Vielleicht hat er seiner Schwester hin und wieder geschrieben.»
    «Hat Ihr Bruder das?»
    Über Margrit Kägis Gesicht ging ein Leuchten. «Auch wenn nur Gott, der das Gesetz gegeben hat, gerecht richten kann, auch wenn nur ER die Macht hat, zu retten oder zu vernichten, will ich Ihnen Johannes’ wunderbare Briefe holen. Vielleicht geben Sie dann endlich Ruhe. Doch bedenken Sie eines: Schlimm wird es denen ergehen, die sich in ihren Augen für weise und selbst für klug halten.»
    * * *
    «Gütiger Himmel, vor dem nächsten Besuch in diesem Irrenhaus brauche ich entweder fünf Whiskeys oder zehn Valium.» Geigy lenkte den BMW zügig durch den beginnenden Feierabendverkehr. «Ich gebe aber zu: Wenn ich in so einer Umgebung lebte, würde ich auch verrückt werden.»
    «Die alte Frage nach dem Huhn und dem Ei», grunzte Unold, ohne von den fleckigen Seiten in seiner Hand aufzublicken.
    «Soll ich Sie zu Hause absetzen, oder analysieren Sie das Zeug auf dem Polizeikommando?»
    «Mmmhmmmm.»
    «Und Sie können mir aufgrund des Gekritzels von Johannes an seine Schwester tatsächlich sagen, ob er auch den Brief an Morton geschrieben hat?»
    Unold faltete die Blätter zusammen und schob sie in das Mäppchen zurück, das Margrit Kägi ihm gegeben hatte. «Ich denke schon. Besser wäre es natürlich, Morton hätte die anderen Briefe nicht zerrissen und weggeworfen, wie uns seine Frau berichtet hat. Aber unsere Ausgangslage ist vergleichsweise komfortabel.»
    «Sie müssen es ja wissen.»
    «Tue ich. Im Grund ist es ganz einfach: Für eine seriöse vergleichende Bestimmung des Urhebers des anonymen Briefs müssen vier Kriterien erfüllt sein: Die Vergleichstexte stammen eindeutig vom Verdächtigen; sie gehören der gleichen Textsorte an wie der Text, dessen Verfasser bestimmt werden soll; sie sind mehr oder weniger im gleichen Zeitraum entstanden, und sie sind so umfangreich wie möglich. In unserem Fall ist all das gegeben.»
    «Und wie lange braucht er für die Analyse, der Herr Akademiker?»
    «Na ja. Wunder kann ich keine vollbringen. Gewöhnlich dauert ein ausführlicher Sprachvergleich mit einem detaillierten Gutachten ungefähr vier Wochen.»
    Geigy bremste hart. «Vier Wochen? Ihnen ist aber schon klar, dass Sie nicht mehr in ihrem schöngeistigen Elfenbeinturm sitzen, sondern an der Aufklärung eines Verbrechens mitarbeiten.»
    «Vielleicht lassen Sie mich erst ausreden. Danke. Wünschen Sie ein fundiertes, ausführliches, schriftliches Gutachten, müssen Sie mir dafür rund vier Wochen Zeit geben. Genügt Ihnen eine Blitzanalyse mit stichwortartigem Befund, sollten vierundzwanzig Stunden reichen.»
    Geigy atmete auf. Mit einem Blick in den Rückspiegel vergewisserte er sich, dass der Vierzigtönner schräg hinter ihm weit genug entfernt war, und wechselte die Spur. «Ganz wohl ist mir bei der Sache nicht», setzte er unvermittelt hinzu.
    «Bitte?»
    «Dieser Texthokuspokus.»
    Unold lächelte. «Mit Hokuspokus hat das wirklich nichts zu tun, genau so wenig wie mit graphologischem Kaffeesatzlesen. Jeder, der auch nur halbwegs bei Verstand ist, erkennt sofort, dass linguistische Differenzanalyse und Wortschatzabgleich streng wissenschaftliche Methoden sind, die eindeutige –» Weiter kam er

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