Im Schatten des Verrats (Hazel-Roman) (German Edition)
haben vielleicht nicht daran gedacht, dass mein Dienstherr gar nicht der König ist, sondern der Erzbischof von Canterbury. Und so, wie ich ihm meine Gründe für die Heirat darlegen würde, müsste er zu der Schlussfolgerung kommen, dass alle meine Motive auf christlicher Nächstenliebe beruhen – was mithin kein Grund wäre, einen unbescholtenen Bischof seines Amts zu entheben."
"Sie sind verrückt!"
"Keineswegs. Viola, Sie wissen, dass ich für Sie eine tiefe Zuneigung hege. Dass Sie nicht ganz die Person sind, die Sie vorgaben zu sein, war anfangs natürlich ein Schock, aber ändert nichts daran, dass ich Sie verehre und bewundere."
Hazel blickte ihm den Tränen nah in die Augen.
"Ach, James!", flüsterte sie heiser, "Sie wissen genau, dass ich Ihr Angebot nicht annehmen kann ..."
"Ihre moralische Integrität ehrt Sie", meinte Lord James. "Aber wenn Sie etwaige Skrupel, Kirbys Geliebte zu werden, überwinden konnten, dann gelingt es Ihnen ja vielleicht auch, sich über Ihre Bedenken bezüglicher unserer Heirat hinwegzusetzen." Er fasste lächelnd ihre Hand und küsste ihre Finger. "Überlegen Sie es sich!", riet er ihr. "Aber nicht hier. Gehen Sie nach Hause zurück."
"Ich kann nicht einfach gehen!"
"Ihre Mutter hat mir erklärt, dass die finanzielle Situation Ihrer Familie sich geändert hat. Ein Verwandter Ihrer Mutter scheint seine Unterstützung angeboten zu haben."
"Aber wie soll ich das Kirby erklären?"
"Überlassen Sie den mir."
Hazel zauderte. "James", gestand sie endlich, "ich will ehrlich zu Ihnen sein: Ich will nicht nach Hause zurück. Es war in letzter Zeit furchtbar dort. Ein Grund, warum ich hier bin, ist auch der, dass ich all dem entfliehen wollte."
Er schaute sie nachdenklich an. "Überlegen Sie es sich", wiederholte er, "und wenn Sie sich so oder so entschieden haben, sagen Sie mir Bescheid. Sie wissen ja, wo Sie mich finden können." Er ergriff ihre Hand und küsste ihre Finger.
Hazel begleitete ihn zur Tür. Als er schon beinahe draußen war, wandte er sich nochmals um. "Ach übrigens", meinte er, "falls Sie mal einem Mr. Haggerty begegnen sollten: Hören Sie sich an, was er zu sagen hat." Und schon war er die Treppe hinunter.
Einige Tage später überbrachte ein Bote von Madame Delacroix die Nachricht, das rote Kleid sei fertig und läge zur letzten Anprobe bereit. Mit Befremden spürte Hazel, welche Aufregung diese Botschaft in ihr verursachte. Einige Minuten versuchte sie, sich zu beherrschen, aber dann gab sie auf. Sie läutete dem Mädchen und der französischen Zofe, bestellte den Wagen in einer halben Stunde, ließ sich frisieren und stieg in ihr gutes Straßenkleid.
Eskortiert von den beiden großen Schachteln des Korsettmachers und des Reifrockmachers, welche ihr die Zofe hinterhertrug, kletterte Mrs. Shandelton wenig später aus ihrer Kutsche und stieg die Stufen zu Madames Reich hinauf.
Die letzte Anprobe bewies, wie genau man Maß genommen und wie exakt man gearbeitet hatte: das Kleid saß – wie nicht anders zu erwarten – wie angegossen. Der Spiegel, den zwei von Madames gutaussehenden Assistenten herbeischleppten und vor sie hinstellten, präsentierte eine elegante Dame von ausgesprochener Schönheit. Überrascht nahm Hazel zur Kenntnis, welch schlanke Taille und welch wohlgerundete Formen das Korsett ihrer Figur entlockte. "Sind Sie zufrieden, Madame?", erkundigte sich die Maîtresse Couturière und Hazel nickte, unfähig, auch nur ein Wort zu sprechen. Während sie atemlos und völlig überwältigt ihr Spiegelbild betrachtete, durchfuhr sie die Vorstellung: wenn Hayward sie so sehen könnte ... ein durchaus befriedigender Gedanke. Im selben Moment überlegte sie, ob sie das Kleid gleich anlassen sollte, denn es war ihr augenblicklich klar, dass sie den Marquis heute Abend darin empfangen und ihn damit überraschen würde.
Gleichwohl fiel ihr ein, dass es ausgesprochen unbequem war, sich mit dem Reifrock in die Kutsche zu quetschen, und dem makellos gebügelten Stoff ihres neuen Kleides wäre es auch abträglich. Also ließ sie sich wieder aus dem Kleid helfen, der Reifrock wurde wieder in seine Einzelteile zerlegt, die Metallbänder enger zusammengerollt, in den Stoffbeutel gesperrt, alles wieder in der Schachtel verpackt und Hazel fuhr – um eine Schachtel reicher - in gehobener Stimmung wieder heimwärts.
Vor dem Haus in der Greenstreet stieg sie aus. Dabei entdeckte sie in ihrem Täschchen den Brief, den sie heute Morgen ihrer Mutter
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