Im Schatten (German Edition)
sah sie ihn an.
» Doch. Aber ich könnte mir gut vorstellen, dass Sie auch längere Haare gut tragen könnten.« Es irritierte sie, wie intensiv er sie musterte.
» In meinem Alter sehen lange Haare lächerlich aus.«
» Oh ja, ich vergaß, Sie stehen ja schon kurz vor dem Ableben.« Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Valerie schnaubte, und er fuhr fort: »Sie haben hoffentlich nicht erwartete, dass ich etwas in der Art ›Sie können doch höchstens achtundzwanzig sein‹ sage. Ich kenne Ihr Alter. Wenn ich auch zugeben muss, dass man es Ihnen tatsächlich nicht ansieht.«
» Nein, ich weiß. Ich sehe keinen Tag älter aus als dreiundvierzigdreiviertel.«
» Sie sind unmöglich!«, lachte er.
» Was kümmern Sie sich eigentlich um meinen Kopf?«, meinte Valerie nun entschieden. »Da draußen sitzen genügend Exemplare, die es weitaus mehr darauf anlegen, männliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.«
» Dass man es mit allen Mitteln versucht, heißt nicht gleichzeitig, dass man es auch schafft. Ihr Frauen müsst uns Männern schon unseren eigenen Geschmack zugestehen.«
Also war es ihm auch aufgefallen, dass insbesondere Tina mit Miniröcken, engen Oberteilen und tiefen Ausschnitten um ihn buhlte. Und ganz offensichtlich ließ ihn das kalt. Aber was wollte er eigentlich mit dieser Aussage andeuten? Dass sie seinem Geschmack entsprach? Wohl kaum! So abrupt, wie er das Thema begonnen hatte, beendete er es auch und wandte sich wieder der Ausschreibung zu. Doch Valeries Gedanken rasten. Würden ihr längere Haare tatsächlich stehen?
V alerie oblag die Koordination innerhalb des Zeichnerinnenteams. Sie legte fest, wer welche Arbeiten ausführte, es sei denn, einer der Planer wollte aufgrund besonderer Tätigkeiten eine bestimmte Zeichnerin. Die Arbeiten landeten alle auf Valeries Schreibtisch, sie sah sie durch und ordnete sie zu. So war es bisher gewesen, und der neue Chef hatte nichts an dem Verfahren geändert. Sie, Annabelle und Andrea, die beiden anderen Zeichnerinnen, waren auch oft auf Baustellen unterwegs und nicht selten außerhalb der Stadt. In den ersten Jahren waren ihre Bauprojekte ausschließlich vor Ort gewesen, doch die innovativen Ideen von Herrn Burzig und seinem Team hatten sich mehr und mehr herumgesprochen, und so kamen die Angebotsanforderungen von immer weiter her. Des Öfteren waren die Aufträge nun in vollkommen anderen Gegenden, was auch für Valerie und Annabelle gelegentliche Dienstreisen notwenig machte. Andreas Aufgaben blieben auf das Büro und die nähere Umgebung beschränkt, da sie als alleinerziehende Mutter nicht für mehrere Tage fort konnte. In den ersten drei Wochen seit Marks Eintritt in die Firma hatte es keine drastischen Veränderungen gegenüber früher gegeben. Er hatte offensichtlich die Fähigkeit, sich gut einzufügen und sein ausgeprägter Humor lockerte die Atmosphäre sehr auf. Allerdings fiel es Valerie manchmal schwer, ihn wirklich als Vorgesetzten ernst zu nehmen. Sie war einen älteren, gesetzten Chef gewohnt, nicht einen jungen Kerl, der laufend freche Sprüche klopfte und zudem statt im Anzug vorzugsweise in Jeans herumlief. So war es kaum verwunderlich, dass sie ihm so manches Mal weniger Respekt entgegenbrachte, als seinerzeit Herrn Burzig. Eines Vormittags kam Mark zu Valerie und reichte ihr eine Skizze.
» Können Sie das für mich umsetzen? Heute noch?« Sie sah sich die Skizze an.
» Kein Problem. Moment mal, was soll das denn hier heißen? Das Geschmiere kann doch kein Mensch lesen.« Sie hielt Mark die Zeichnung entgegen.
» Lessingstraße«, antwortete er mit einem kurzen Blick darauf.
» Noch nie was von Normschrift gehört?« Valeries Ton war gespielt tadelnd.
» Entschuldigung. Kommt nicht wieder vor.« Mark tat geknickt, nahm das Papier und schrieb ganz ordentlich das gefragte Wort hin.
» Sehen Sie, geht doch. Mit den Lehrlingen heutzutage ist auch nichts mehr los.« Kopf schüttelnd nahm sie ihm die Skizze ab.
» Lehrling?« Mark sah sie mit großen Augen an.
» Ja, hat man Ihnen das bei der Einstellung nicht erzählt? Die Dienstältesten hier sind die Chefs, die Neuen die Lehrlinge. So ist das hier nun mal.«
» Ah ja.« Mark ging wieder in Richtung seines Büros. An der Tür drehte er sich um und sagte grinsend:
» Ich hole nur den Besen, dann komme ich zum Ausfegen, Chefin.«
S eit Valerie in diesem Architekturbüro arbeitete, liebte sie ihren Beruf mehr denn je. Doch wie jeder andere Mensch, freute auch sie sich auf den
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