Im Schatten meiner Schwester. Roman
Zahlen sind noch höher, wenn wir von Nieren sprechen – sechzigtausend Menschen warten, fünfzehntausend bekommen eine, viertausend sterben, während sie darauf warten. Übrigens ist die Überlebensrate bei diesen Transplantationen beeindruckend, oft bis zu fünfundachtzig Prozent.«
Molly sagte nichts. Sie konnte mit solchen Zahlen nichts anfangen.
»Im Moment hier im Dickenson-May?«, fuhr er fort. »Wir haben eine Frau mit Lungenfibrose, wahrscheinlich die Nachwirkungen einer Infektion. Sie ist fünfunddreißig, was jung ist für die Krankheit, und sie hat zwei Kinder. Lungenfibrose verursacht Narbengewebe in Form von Luftsäcken, die das Atmen erschweren. Das zwingt sie zu einer sitzenden Lebensweise, die dann zu weiteren Problemen führen wird. Eine einzige Lunge wird ihr ein neues Leben schenken.
Wir haben außerdem im Moment einen Patienten, der um die zwanzig ist, der als Kind durch eine Bluttransfusion Hepatitis bekommen hat. Er hat chronische Leberinfektionen, die mehrmals im Jahr Krankenhausaufenthalte notwendig machen, und er hat es trotzdem letztes Jahr geschafft, in Dartmouth seinen Abschluss zu machen. Er will in die medizinische Forschung gehen. Er braucht nur eine halbe Leber. Ein anderer Patient kann die andere Hälfte nutzen, und sie werden beide überleben.«
»Die Hälfte?«, fragte Molly.
»Nur die Hälfte«, bestätigte der Arzt. »Die Leber regeneriert sich selbst wieder. Und dann sind da oben die Kinder. Eines ist ein siebenjähriges Mädchen, das eine zystische Nierenkrankheit hat. Ich muss wohl nicht sagen, was eine Niere für sie bedeuten würde.« Er sprach weiter, redete allgemein über Fälle, die er erlebt hatte und in denen ein Spenderherz, eine Bauchspeicheldrüse, sogar ein Darm ein Leben gerettet hatte. Er sprach von Spendern und Spenderfamilien und von neuen Techniken, die erprobt wurden.
Als er fertig war, hatte Molly genug gehört, um zu verstehen, warum Robin sich als Spenderin hatte eintragen lassen. Dann erzählte ihr David von Dylan Monroe.
»Das ist ein unheimlich netter kleiner Kerl«, sagte er. Sie waren nun im hinteren Patio des Krankenhauses und beendeten ihr Abendessen. Da die Besuchszeit fast vorüber war, waren nur noch wenige Gäste da. »Er ist ein Musikfreak – hört ein Lied und kann es sofort nachspielen. Akademische Fächer sind sein Problem. Er kommt nur langsam mit, doch sobald er es kapiert, ist er gut. Dasselbe beim Sport. Er ist ein kleiner Kämpfer. Was ihn aus dem Konzept bringt, ist sein Augenlicht, weshalb Musik so toll ist. Sein Ohr ist wichtiger als seine Augen. Er trägt eine dicke Brille, aber der Zustand seiner Hornhaut macht für ihn die Welt zu einem verschwommenen Chaos. Wenn er alt genug ist, wird er eine Hornhautverpflanzung brauchen. Bis dahin muss er doppelt so schwer arbeiten. Hier geht es nicht um Leben und Tod. Es ist technisch gesehen nicht mal eine Organspende, da die Hornhaut nur ein Gewebe ist. Aber wenn du sehen würdest, wie dieser kleine Kerl versucht, mit seinen Freunden mitzuhalten, würde es dir das Herz brechen.«
»Meine Mutter würde Mitleid mit ihm haben«, meinte Molly.
»Kannst du es ihr erzählen?«
»Nein, aber ich werde es müssen. Sonst tut es keiner.« Sie schob den Rest ihres Hühnchens auf dem Teller herum und legte dann die Gabel hin. »Komisch, Robin war in manchen Dingen nur mit sich selbst beschäftigt und in anderen völlig selbstlos. Sie liebte es, Kurse zu geben, liebte es, mit Kindern zu arbeiten, die zusätzliche Hilfe brauchten. Und Organspenden? Du hast recht. Bei dem Jungen, der eine Hornhauttransplantation braucht, mag es nicht um Leben und Tod gehen, aber sie würde sich auch um ihn sorgen.«
David lehnte sich zurück und lächelte sie an.
»Was ist?«, fragte sie.
»Erinnerst du dich noch an Donnerstag, als ich dir beim Packen geholfen habe und du gefragt hast, was ich über Robin erfahren habe? Ich habe eigentlich mehr über dich erfahren. Was du gerade gesagt hast, bestätigt es. Du hast deine Schwester geliebt. Du bist realistisch, was ihre Fehler angeht, aber du hast sie bewundert. Du warst loyal in allem, was du diese Woche getan hast.«
»
Nachdem
ich sie sitzengelassen habe«, erinnerte ihn Molly. »Das werde ich mir niemals verzeihen.«
»Das wirst du schon«, entgegnete er, nahm ihr Tablett und trug beide zum Mülleimer.
»Woher weißt du das?«, fragte sie, als er wiederkam.
»Weil du praktisch veranlagt bist.«
»Praktisch veranlagt?« Sie gingen zurück Richtung
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