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Im Schatten meiner Schwester. Roman

Titel: Im Schatten meiner Schwester. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Delinsky
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Mutter.
    Der Gedanke erschreckte sie, doch er ließ sich nicht abschütteln. Sie wollte Marjorie – wollte ihr Herz bei ihr ausschütten und in den Armen desjenigen Menschen weinen, dessen Aufgabe es war zuzuhören. Es war egal, wie alt und wie unabhängig Kathryn war. Sie brauchte ihre Mutter.
    Sie nahm ihre Handtasche vom Stuhl und suchte darin nach ihren Schlüsseln. Ihr Kamm fiel heraus. Während sie ihn aufhob, taumelte sie gegen den Infusionsständer. Sie griff danach, richtete sich auf, und Gott sei Dank tropfte die Infusion weiter.
    Als sie die Schlüssel endlich in der Hand hielt, küsste sie Robin auf die Wange. »Ich komme wieder. Ich besuche Nana.« Es war okay, wenn sie zu diesem Zweck das Krankenhaus verließ.
    Sie ging am Schwesternzimmer vorbei und hatte die Theorie im Kopf, dass sie, wenn sie wüssten, dass Robin allein war, öfter nach ihr sähen. Als der Aufzug jedoch hinunterfuhr, wünschte sich Kathryn, sie hätte eine Videokamera in ihrem Zimmer. Soweit sie wusste, kamen sie nie in den Raum. Sie konnten die Apparate von ihrem Zimmer aus bedienen.
    Die Aufzugtür öffnete sich. Sie wollte schon auf den Knopf drücken und wieder hinauffahren, als sie erneut an Marjorie dachte. Sie brauchte ihre Mutter. Natürlich war es irrational. Marjorie würde nichts sagen, was helfen könnte. Sie würde nicht wissen, wovon Kathryn redete. Sie würde Kathryn gar nicht erkennen, Punkt.
    Trotzdem ging sie weiter zum Parkplatz. Die Nacht hatte sich herabgesenkt, doch große Laternen über ihr erleuchteten die Autos. Es waren nicht mehr viele da. Dennoch dauerte es eine Minute, bevor sie ihres fand, dort geparkt, wo sie es an diesem Morgen verlassen hatte. Sie fummelte mit dem Schlüssel herum und ließ ihn fallen, musste ihn aufheben, bevor sie schließlich die Tür aufbekam, und sobald sie im Auto saß, konnte sie kaum atmen. Die Luft war zum Ersticken.
    Sie war erregt. Sie war müde. Sie hatte Angst.
    Sie ließ das Fenster herunter, atmete tief durch und startete den Motor. Dann fuhr sie rückwärts hinaus und verließ den Parkplatz. Die Hauptstraße war dunkel. Erst als ein vorbeifahrendes Auto hupte und sie danach wieder in Dunkelheit tauchte, wurde ihr klar, dass sie die Scheinwerfer nicht eingeschaltet hatte.
    Dieses Versäumnis erschütterte sie. Ihre Mutter litt an Alzheimer. Sie fragte sich, ob dies ein frühes Anzeichen der Krankheit bei ihr selber war. Doch es konnte nicht sein, nicht bei allem anderen, was diese Woche passiert war. Kein Gott konnte so grausam sein.
    Wie von Sinnen begann sie zu weinen. Als ihr alles vor den Augen verschwamm, fuhr sie langsamer, hielt die Hände fest ums Steuerrad, doch selbst so verfehlte sie nur um wenige Zentimeter einen großen blumenförmigen Briefkasten. Fahr ran, sagte eine leise Stimme, doch sie riss das Auto zu schnell und zu scharf herum. Der Wagen schoss von der Straße in eine Wiese hinein. Den Fuß noch auf dem Gas, versuchte sie ihren Fehler zu korrigieren. Stattdessen verlor sie vollkommen die Kontrolle und fuhr gegen einen Baum.

[home]
20
    K athryn war außer Atem. Es dauerte eine Minute, bevor sie den Kopf hob, eine weitere, bevor sie ihre Glieder bewegte. Nichts tat weh.
    Das Auto hatte nicht so viel Glück gehabt, wenn man nach dem Geräusch ging, das es machte. Sie wollte es zum Schweigen bringen und schaltete den Motor aus, doch als sie versuchte, ihn erneut zu starten, weigerte er sich anzuspringen. Ein Scheinwerfer brannte noch. Sie kletterte unter niedrig hängenden Ästen heraus und nutzte sein Licht, um zu sehen, was sie angerichtet hatte. Die Vorderseite des Autos hatte sich in einem Dutzend seltsamer Winkel um den Baum gewickelt. Es gab keinen Rauch, nur einen merkwürdigen süßlichen Geruch nach Frostschutzmittel und Gras.
    Mit Verspätung begannen ihr die Knie weich zu werden. Sie stolperte zum Auto zurück und saß einen Augenblick lang da, um die Beherrschung wiederzugewinnen. Der Schaden hätte vielleicht schlimmer sein können – für sie, einen Passagier, sogar fürs Auto –, aber sie hatte Mühe damit, Dankbarkeit zu empfinden. Das war eins zu viel zusätzlich zu allem anderen.
    Und der große Sinn eines Unfalls jetzt, Charlie?, fragte sie sich. Dein Geist, Mom?
    Zumindest weinte sie nicht. Das war immerhin schon etwas.
    Sie zog gerade ihr Handy hervor, als sie ein Auto ohne anzuhalten vorbeirauschen sah – aber natürlich befand sie sich ja auch leicht sechshundert Meter von der Straße entfernt, und ihr einziger

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