Im Schatten meiner Schwester. Roman
müssen sprechen«, rief Marjorie kummervoll aus und fügte hinzu: »Ich sollte Sie kennen.«
»Das tun Sie«, flüsterte Molly und legte die Wange an das Knie ihrer Großmutter. Es dauerte eine Minute, bevor Marjories Hand Mollys Kopf berührte, und eine weitere, bevor sie begann, ihr Haar zu streicheln, doch die Vertrautheit war tröstlich.
Hirntot
verlor kurzzeitig seine Schärfe. Für diese kurze Zeit war Molly wieder an einem Ort, an dem die Unbilden des Lebens durch eine Liebkosung gemildert werden konnten.
Dann hörte das Streicheln auf, und Molly blickte zu ihr hoch. Die Augen ihrer Großmutter waren auf die Tür gerichtet, und ihr Gesicht leuchtete auf vor Vergnügen.
Da stand Thomas. Seine Nase war rot, sein Haar zerzaust, sein Morgenmantel schief zugebunden.
»Aber hallo«, grüßte Marjorie und klang verwirrt, doch erfreut. »Kenne ich Sie?«
Er antwortete nicht. Aus dem, was man Molly erzählt hatte, hatte sie entnommen, dass er kaum sprach. Man konnte nur raten, ob Thomas absichtlich sein Zimmer verlassen hatte, um herzukommen, oder ob die Wahl unbewusst erfolgt war. Doch der Kummer, den Molly von ihrer Großmutter kurz zuvor gehört hatte, war verflogen. Aus diesem Grund allein fand Molly, dass Kathryn dankbar für Thomas sein sollte.
Marjorie hatte im Leben ihre Pflicht erfüllt. Sie war ergeben gewesen und hatte hart gearbeitet, und sie hatte ganz sicher nicht um diese Krankheit gebeten. Doch Alzheimer hatte ihr die Identität genommen, hatte eine Tafel von fast achtzig Jahren abgewischt. Wenn sie immer noch Momente des Vergnügens haben konnte, wie sollte das schlecht sein? Sie war gefangen in einer ihr nicht vertrauten Welt, doch es war eine, in der Ehemänner nicht starben, Töchter nicht aufhörten, zu Besuch zu kommen, und Enkelinnen nicht an lebenserhaltenden Apparaten endeten. Ein winziger Teil von Molly beneidete sie darum.
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7
M olly zerbrach sich den Kopf, ob sie Nick von dem EEG erzählen sollte. Als sie nach dem Besuch bei ihrer Großmutter zurückfuhr, schwankte sie hin und her, klappte mehrmals ihr Handy auf und zu, bevor sie sich schließlich die Wahrheit eingestand. Ja, sie vertraute ihm … aber nicht völlig.
Hirntot
klang unheilschwanger, und Nick gehörte schließlich zur Presse.
Er war auch so etwas wie eine lokale Berühmtheit – ein Mann der Szene, der begehrteste Junggeselle, der die hinreißendsten blauen Augen hatte –, und er schätzte ihre Freundschaft. Robin behauptete, er nutze Molly aus, aber wofür? Molly und Nick waren Freunde gewesen, bevor er und Robin sich überhaupt das erste Mal verabredet hatten. Molly hatte sie einander vorgestellt.
Doch sie respektierte das Bedürfnis ihrer Mutter nach Privatsphäre. Also ließ sie ihr Handy ausgeschaltet.
Dann konzentrierte sie sich wieder auf Robin und kehrte ins Dickenson-May zurück. Sie war jedoch kaum bei der Eingangstür angekommen, als sie im dämmrigen Licht des Krankenhausschildes auf einer Bank einen Mann entdeckte. Es war der Gute Samariter. Die Krawatte war entfernt, sein Hemd hing lose heraus. Er hatte die Ellbogen auf die Knie gelegt, doch als er sie erblickte, setzte er sich aufrechter hin und sah sie fragend an.
Sie lächelte traurig. »Nichts Gutes.«
Er sank in sich zusammen. »Es tut mir leid.«
Molly erinnerte sich nur allzu deutlich an die bissigen Worte ihrer Mutter und fragte sich, ob Kathryn wusste, dass er da war. »Waren Sie schon oben?«
»Lediglich lange genug, um festzustellen, dass Sie nicht in der Nähe waren. Ihre Mom soll mich nicht sehen, das würde sie nur aufregen. Ich musste sowieso mit jemandem reden.«
»Hier im Krankenhaus?«
»Ja. Ein Freund von einem Freund. Ich brauche Informationen über Magersucht. Eine meiner Schülerinnen hat ein Problem damit.«
Molly, die fand, dass Magersucht dem Hirntod vorzuziehen war, setzte sich zu ihm auf die Bank. »Wie alt sind Ihre Schülerinnen?«
»Achte Klasse. Also Dreizehn-, Vierzehnjährige.« Als sie zusammenzuckte, nickte er. »Ja. Das ist ein schwieriges Alter. Sie sind die Ältesten in der Junior High, also sind sie aufsässig. Es gibt eine Menge Schikanen, und nicht nur von den jüngeren Schülern. Sie schikanieren sich auch gegenseitig. Die Mädchen sind voll entwickelt und frühreif. Sie sind gesellig. Sie ziehen sich provozierend an. Die Hälfte der Jungen ist schon in der Pubertät, die andere noch nicht. Diejenigen, die es noch nicht sind, sind verletzlich.«
»Wer ist die Magersüchtige?«
»Eines meiner
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