Im Schatten meiner Schwester. Roman
Mädchen. Sie ist Tänzerin und wirklich talentiert, und sie ist das reizendste Kind, das man sich vorstellen kann. Sie gehört nicht so sehr zur Szene, weil sie jede freie Minute in der Ballettschule verbringt. Wenn sie in die Pubertät käme, würde man es nie erfahren. Sie ist eine Bohnenstange.«
»Ihre Eltern müssen das doch sehen.«
Er schaute zweifelnd drein. »Das meinen Sie. Aber sie sind selbst überehrgeizig. Mom ist Anwältin, Dad Erzieher. Ich glaube, dass sie es nicht sehen wollen.«
»Haben Sie mit ihnen geredet?«
»Nein. Die Sache hat einen Haken. Ihr Vater ist der Schuldirektor – mein Boss. Er ist stolz auf seine Kinder. Sie haben immer tolle Noten und gewinnen alle Preise der Gegend. Ihm wird es nicht gefallen, wenn ich auf einen Mangel hinweise.«
»Magersucht ist kein Mangel«, gab Molly zurück. »Es ist eine Krankheit.«
»Bei seiner Tochter wäre es ein Mangel, und einer, der auf seine Frau und ihn zurückfallen würde, was das Ganze zu einem heiklen Thema macht.«
»Aber Sie machen sich Sorgen.« Sie erkannte es in seinen Augen.
»Ja, aber stecke ich meine Nase in Sachen, die mich nichts angehen? Sie müssen wissen, dass etwas nicht stimmt. Andere Leute müssen es doch erwähnt haben. Ich bin ja nur ihr Geschichtslehrer.«
»Vielleicht kümmern Sie sich mehr als die anderen.«
»Vielleicht bin ich auch einfach nur unbesonnener. Vor ein paar Jahren – in einer anderen Stadt, an einer anderen Schule – habe ich einen Betrug angezeigt. Es war ziemlich offensichtlich. Doch der Schüler war der Sohn von Freunden meiner Eltern. Es besteht immer noch eine Kluft zwischen unseren Familien. Meine Eltern haben es mir bis heute nicht verziehen.«
»Aber wenn dieses Mädchen gesundheitlich in Gefahr ist …«
»Deshalb bin ich ja so zerrissen«, gab er zu. »Ein guter Kerl zu sein kann auf einen zurückfallen. Wie bei Ihrer Schwester. Wenn sie hirntot ist, habe ich sie gar nicht gerettet. Ich habe nur ihren Todeskampf verlängert.«
»Sie konnten doch überhaupt nicht wissen, wohin das führen würde. Dafür können Sie sich nicht die Schuld geben.«
»Finden Ihre Eltern das auch?«, fragte er und fuhr fort, bevor Molly sich eine diplomatische Antwort ausdenken konnte: »Manchmal ist ein Mensch auf jeden Fall verdammt. Ist es besser, durch Hingabe oder durch Unterlassung zu irren?«
Molly wusste es nicht. Sie war selbst hin- und hergerissen. Sie hätte Robin zu ihrem Rennen fahren und fünf Minuten weiter auf der Straße sitzen und Wasser trinken, hätte warten und Radio hören können, während Robins Hirngewebe abstarb.
»Der Unterschied«, sagte sie, »ist, dass Sie es versucht haben. Ihre Absichten waren gut. Sie haben gehandelt, weil Sie sich gekümmert haben.«
»Aber hier liegt auch die Ironie. Ich bin Lehrer geworden, um mich rauszuhalten. Meine Familie arbeitet im Verlagswesen, ist sehr bekannt, eindeutig A-Liste. Sie bekommen Anerkennung für alles, was sie tun, Gutes oder Schlechtes, weshalb ich die Kehrseite des Rampenlichts gesehen habe. Der Schmerz ist es nicht wert. Ich bin das jüngste Kind und war immer am wenigsten sichtbar. Mir gefällt es so.«
Molly konnte sich total damit identifizieren. Sie war auch die Jüngste und am wenigsten Sichtbare. »Sehr bequem.«
»Betrug, Magersucht, Herzfehler – ich brenne nicht darauf, mich einzumischen.«
In dieser Hinsicht waren sie verwandte Seelen, so dass Molly ihn noch mehr mochte. Er würde ihren Widerwillen verstehen, die Sprecherin der Familie zu sein.
Aber wer sonst konnte das? Die Umstände waren grässlich. »Es ist nicht immer möglich, sich im Hintergrund zu halten.«
»Mein Dad sagt ja. Er setzt proaktiv handeln mit mutig sein gleich, und bis zu einem gewissen Grad stimme ich ihm da auch zu.« Sein Blick wanderte zum Parkplatz und kehrte dann plötzlich zurück. »Es tut mir leid. Da rede ich andauernd von mir, obwohl Sie es doch sind, die sich in einer Krise befindet.«
Sie lächelte. »Es ist gut, an etwas anderes zu denken. Außerdem gibt es ja Parallelen. Sollen wir handeln oder nicht? Wissen wir, dass wir unser Bestes getan haben, oder sterben wir an Reue?«
»Sterben wir, Punkt?«, bemerkte er düster. »Das verfolgt mich. Sehen Sie sich doch Ihre Schwester an. Weiß denn einer von uns, wann uns so etwas passieren könnte?« Er schnaubte. »Ziemlich egoistische Gedanken.«
»Aber es ist real«, erwiderte Molly. »Die Sterblichkeit, meine ich.« Sie nahm an, dass er Anfang dreißig war, und
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