Im Schattenreich des Dr. Mubase
war.
Stille. Keine Menschenseele.
Aber schon bald näherte sich aus
südlicher Richtung ein Radler, die Golfmütze tief in die Stirn gezogen, in
einen spinatgrünen Parka verpackt, keuchend.
Gaby pfiff auf zwei Fingern, was sie
besser kann als mancher Gassenjunge. Tim hatte ihr das beigebracht, aber nur
für den Notfall — als weithin hörbares Signal. Zu einem goldblonden Mädchen mit
Kornblumenaugen, dunklen Wimpern und einer Aura von Anmut passen solche Manieren
so wenig wie saftige Flüche.
Klößchen begriff und schwenkte zu ihr
unter die Bäume.
„Hallo, Pfote!“ Sofort entdeckte er den
Korb. „Hast du dir Strickzeug mitgebracht?“ fragte er scheinheilig.
„Seit wann stricke ich? Guten Morgen,
Willi! Nein, das ist Proviant. Damit wir den Tag überstehen. Gegen Mittag
eröffne ich das kalte Büffet. Gefrühstückt hast du doch sicherlich?“
„Kaum. Eigentlich gar nichts. Tim hat
mich gleich losgejagt.“
„Ist er zur Insel gerudert?“
„Hoffe ich doch.“ Klößchen setzte sich
neben sie.
„Kannst du sitzen?“
„Klar. Wieso nicht?“
„Tim erzählte am Telefon, daß der Hund
dich erwischt hat. Hinten.“
„Aber nicht mich leibhaftig, sondern
nur meine rot-grün-karierte Stiefelhose. An der fehlt jetzt die Hälfte. Hinten.“
Er berichtete ausführlich über die
Ereignisse der letzten Nacht, weil Tim sich am Telefon kurzgefaßt hatte.
Gaby war empört über Eike Drägers
Erpressung.
„Und Karl muß ihn jetzt zu diesem
Charlie begleiten?“
„Als Beobachter. Um Hilfe zu holen,
falls was passiert.“
„Was ist denn dort los?“ Gaby reckte
den Kopf.
Es geschah auf dem Dach des
nächstgelegenen Patientenhauses. Eins der Dachliegefenster, das erste, wurde
geöffnet. Und — Gaby staunte — eine Gestalt im wehenden Gewand stieg hervor.
„Huch!“ meinte Klößchen. „Ein Gespenst!
Die weiße Frau vom Rohrpfeifer See. Nee, ihr Nachthemd ist sauerkirschenrot.“
„Das ist nicht sauerkirschenrot“,
belehrte ihn Gaby, „sondern shocking pink. Heißt nun mal so, weil diese
Knallfarbe... Sieh dir das an!“
Beide staunten.
Die Frau war jung. Langes dunkles Haar
wallte. Auch ihre Art der Fortbewegung auf dem Schrägdach war wie ein Wallen.
Oft knickten die Knie ein. Jetzt merkten Gaby und Klößchen, daß sie wahrhaftig
torkelte. In einer Hand hielt sie eine Flasche, Sekt oder Champagner? Die Dame
blieb stehen, ziemlich schief — denn sie mußte die Dachschräge mit Hüftknick
ausgleichen — , setzte die Pulle an die zarten Lippen und nahm einen größeren
Schluck. Dann torkelte die Frau weiter. Ihr pinkfarbenes Gewand war ein
Nachthemd in mehreren Schichten. Sehr hübsch, aber kühl.
„Sie ist barfuß“, sagte Klößchen.
„Und betrunken.“
„Vielleicht fällt sie runter.“
Die Frau kam näher, schwankte zum
diesseitigen Dachrand. Dort blieb sie stehen, in etwa zehn Meter Höhe. Noch
einen Schluck. Dann blickte die Langhaarige neugierig in den Hof hinab.
„Ich weiß, wer das ist“, flüsterte Gaby
aufgeregt. „Ihr Foto ist oft in den Klatschspalten der Zeitungen. Eine Schicki-Micki-Tussi
ist das. Auf allen Feten dabei. Ja, das ist Lioba von Droschke. Ihr Mann ist
der bekannte Immo-Droschke. Lieber nennt er sich Immobilien-König. Hat immer
wieder vor Gericht mit Privatklagen zu tun, weil er auch als Bauherr auftritt,
schlimmen Schund baut und die Hütten teuer verkauft.“
„Ich bin im Bild“, nickte Klößchen. „Von
der Tante habe ich gehört. Ob die hier abspeckt?“
„Sieht wohl eher aus wie eine
erfolglose Entziehungskur.“ Lioba begann auf dem Dachrand zu balancieren.
Gaby schloß vor Entsetzen die Augen.
„...wie... wohl... ist mir am
Ahaaabend...“, tönte ein greller Sopran durch die Nebelluft herüber.
Lioba sang. Zwischendurch nahm sie
Schlückchen um Schlückchen. Das machte sie noch mutiger. Sie balancierte jetzt
an höchster Stelle, nämlich auf dem Brandgiebel.
„Willi, lauf zum Tor!“ sagte Gaby. „Klingele
und sag Bescheid. Schnell, ehe sie sich zu Tode...“
„Nicht mehr nötig“, meinte Klößchen. „Schon
gerettet.“ Und richtig! Soeben schob sich Paul Sturkamp, der Stiftekopf, durch
die Dachluke.
„Aber liebe gnädige Frau!“ rief er. „So
geht das doch nicht.“ Vorsichtig näherte er sich ihr. Schwindelfrei war er
offenbar nicht.
„O wie woohoool...“, sang sie. Und rief
dann: „Ich bin eine Seiltänzerin.“
„Bitte, kommen Sie her!“ verlangte
Paul. „Es gibt Frühstück, Frau von
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