Im Schloss des spanischen Grafen
angenommen, dass Alejandro, wenn ihm erst klar wurde, wie sehr sein Bruder ihre Gesellschaft zu schätzen wusste, seine Frau ebenfalls in einem neuen Licht sehen würde. Doch stattdessen hatte er unterstellt, dass die Freundschaft zwischen ihr und Marco auf Sex basierte. Wenn das die einzige Bindung war, die er zu ihr aufbauen konnte, wie sollte er auch verstehen, dass Marco und sie auf einer ganz anderen Ebene zueinandergefunden hatten?
Jemima unterdrückte den Seufzer. Über die Vergangenheit zu grübeln half nichts … Traurig schlief sie schließlich ein.
6. KAPITEL
Geschirr klapperte, Vorhänge wurden surrend zurückgezogen, und die Sonne flutete das Zimmer mit goldenem Licht. Mit einem schlaftrunkenen Seufzer schlug Jemima die Augen auf. Prompt stürzten nicht jugendfreie Bilder auf sie ein, und ein leises Summen in ihrem Körper erinnerte sie daran, wie sie im Morgengrauen den Anbruch des neuen Tages gefeiert hatten. Kein Wunder, dass sie so lange geschlafen hatte. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass Alejandro aufgestanden war.
Sie schaute zur Digitaluhr und riss ungläubig die Augen auf. Es war längst nach Mittag! Das Hausmädchen stellte das Tablett auf einem Seitentischchen ab, legte Jemimas Morgenmantel auf das Fußende des Betts und fragte sie, ob sie das Frühstück im angrenzenden Zimmer oder lieber auf der Turmterrasse einnehmen wolle.
Zutiefst verlegen, weil sie komplett nackt war und ihr Nachthemd noch immer dort auf dem Boden lag, wohin Alejandro es mitten in der Nacht achtlos geschleudert hatte, wand Jemima sich unter der Bettdecke in den Morgenmantel. „Danke, ich würde gern draußen essen.“
Sie stand auf und schlüpfte in die bereitstehenden Pantöffelchen, um dem Mädchen die enge Wendeltreppe hinauf zur Terrasse auf dem Turmdach zu folgen. Früher war der Rundgang ihr Lieblingsplatz im gesamten Schloss gewesen, sicher vor unerwünschten Eindringlingen und neugierigen Blicken. Angenehme Wärme empfing sie, als sie an die frische Luft trat, und der Panoramablick war genauso überwältigend schön, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Von hier aus konnte man sehen, so weit das Auge reichte. In der Ferne rahmten die Berge der Sierra das grüne Tal ein wie schneebedeckte Wächter.
Von unten aus dem Garten drang das fröhliche Lachen eines Kindes zu ihr herauf. Sie beugte sich leicht über die Zinnen. Alfie spielte zusammen mit Placida Fußball auf dem makellosen gepflegten Rasen. Seit ich hier bin, habe ich mich ja wirklich als perfekte Mutter erwiesen, dachte Jemima selbstironisch und nahm sich vor, den gesamten restlichen Tag mit ihrem Sohn zu verbringen.
Sie setzte sich an den Tisch im Schatten und aß den servierten Lunch mit Appetit. Nachdem sie zu Ende gegessen hatte, nahm sie das Tablett wieder mit hinunter, legte eine halblange weiße Hose und ein grünes T-Shirt bereit – aus ihren eigenen Sachen, die sie mitgebracht hatte – und ging erst einmal duschen.
Das Haar kringelte sich feucht um ihr Gesicht, als Jemima die Haupttreppe im Schloss hinunterstieg. Schrille, aufgeregte weibliche Stimmen drangen ihr entgegen, unterbrochen von den knappen, harschen Bemerkungen in dem tiefen Bariton eines Mannes. Im Salon auf dem Erdgeschoss war offensichtlich ein Streit in vollem Gange. Zwei Mitglieder des Hauspersonals standen regungslos in der großen Empfangshalle und lauschten völlig gefesselt. Die Tür wurde aufgerissen, Beatriz stürzte mit hochroter, unglücklicher Miene aus dem Raum hervor, und die beiden Dienstleute sahen zu, dass sie so schnell wie möglich in der Küche verschwanden.
„Was ist denn los?“, fragte Jemima verblüfft.
„Mamá ist wütend auf Alejandro“, gab Beatriz verlegen zu.
„Oh …“ Jemima hielt ihre Neugier im Zaum. Es schien ihr klüger, sich nicht in eine Familienangelegenheit einzumischen, und so lief sie an der Tür des Salons vorbei. „Ich werde zu Alfie und Placida in den Garten gehen.“
Beatriz schloss sich ihr an, augenscheinlich bemüht, dem schiefhängenden Haussegen zu entkommen. „Alejandro hat Doña Hortencia gesagt, sie soll in die Villa auf dem Anwesen umziehen.“
Die Neuigkeit erstaunte Jemima. Ruckartig wandte sie den Kopf und blickte ihre Schwägerin mit großen Augen an. „Du meine Güte, das kommt aber plötzlich!“
„Ihre Sachen sind schon gepackt“, berichtete Beatriz weiter. „Mamá ist absolut außer sich. Ich habe Alejandro noch nie so wütend gesehen – und auch noch nie so entschieden. Mamá soll sogar in
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