Im Schutz der Nacht
weiter Ferne an ihr Ohr und hörte sich dabei eigenartig vertraut an. Mit dumpfem Erschrecken erkannte sie, dass es genau der Tonfall war, mit dem sie die Jungs schalt, wenn sie zu sehr tobten.
Der Mann sah sie ohne jeden Ausdruck an. »Gehen Sie weiter.«
»Und Sie hören auf, uns zu schubsen, sonst brechen wir uns noch alle den Hals!«
Aus Neenahs Gesicht war jede Farbe gewichen, sogar ihre Lippen waren weiß, ihre Augen waren so groß, dass rund um die blaue Iris das Weiße zu sehen war. Bestimmt fragte sie sich, was Cate sich dabei dachte, einen Mann anzuschnauzen, der eine Pistole an ihre Schläfe presste, trotzdem entkam ihr nicht einmal ein Wimmern. O Gott, dachte Cate verzweifelt, was in aller Welt tat sie da? Ohne ein weiteres Wort drehte sie den beiden den Rücken zu und stieg weiter die Treppe hinauf, zumindest hatte der kurz aufflackernde Zorn ihre Knie stabilisiert.
Oben an der Treppe wandte sie sich nach rechts und führte die beiden ans dunkle Ende des Hausflurs, wo die Tür zum Speicher war. Vielleicht würden sie beide dort oben sterben, dachte sie, bei dem Gedanken gefror ihr das Blut in den Adern. Da man ihre Leichen erst später finden würde, hätten Mellor und sein Kumpan reichlich Zeit zu verschwinden.
Was würde aus ihren Babys, wenn sie getötet würde? An Liebe würde es ihnen nicht fehlen; ihre Eltern würden sie zu sich nehmen, oder Patrick und Andie, selbst wenn die beiden ein eigenes Kind erwarteten, aber das Leben der Jungs wäre für alle Zeit von Gewalt gezeichnet. Was würden sie von ihr im Gedächtnis behalten? Würden sie sich in zehn Jahren überhaupt noch an sie erinnern? Würden sie je wirklich begreifen, wie sehr Cate sie geliebt hatte?
Dieser verfluchte Jeffrey Layton, ihr diese Leute ins Haus zu schleppen!, dachte sie mit unvermittelter, brutaler Inbrunst. Falls sie ihn je in die Hände bekommen sollte, würde sie ihn kaltblütig erdrosseln.
Mühsam erklommen sie die steile, schmale Speichertreppe. Mit zusammengekniffenen Augen inspizierte Mellor die vollgestellte Fläche und schubste dann Neenah vorwärts. »Wo ist es?«
»Hier.« Cate trat an den Koffer und zog ihn heraus. Sie wollte ihm schon erklären, dass er seine Zeit vertat, ganz gleich, wonach er suchte, weil in diesem Koffer lediglich Kleidungsstücke waren, aber dann schluckte sie die Bemerkung herunter. Vielleicht war es besser, ihn glauben zu lassen, er hätte bekommen, was er suchte. Vielleicht würde er sie dann nicht töten; vielleicht würde er sie und Neenah hier oben einsperren und verschwinden.
Den Koffergriff umklammernd, drehte sie sich zu ihm um und erstarrte.
Auf dem oberen Treppenabsatz stand Calvin Harris, eine Flinte im Anschlag, mit der er genau auf Mellors Kopf zielte.
Cate wollte instinktiv aus der Schusslinie weichen, taumelte zurück und schlug dabei mit dem Kopf gegen einen Dachsparren.
Von ihrer Reaktion aufgeschreckt, fuhr Mellor herum, ohne Neenah freizugeben.
»Lassen Sie sie los«, sagte der Handwerker ruhig. Die große Waffe lag ruhig wie ein Stein in seinen Händen, seine Wange schmiegte sich an den hölzernen Schaft, und die Augen, die sie bisher als »verwaschen« bezeichnet hätte, glänzten blass und kalt wie Eis.
Mellor ließ sich zu einem halben Lächeln herab. »Das ist eine Schrotflinte. Wenn Sie mich erschießen, erschießen Sie damit auch die beiden Frauen. Keine gut gewählte Waffe.«
Calvins Lächeln war ebenso herablassend wie Mellors. »Nur dass sie mit Kugeln geladen ist, nicht mit Schrot. Auf diese Entfernung bläst sie Ihnen den Kopf weg, ohne dass Neenah ein Haar gekrümmt wird.«
»Na sicher. Runter mit dem Gewehr, sonst ist sie tot.«
»Wenn ich Ihnen die Lage erklären dürfte«, schlug Calvin freundlich vor. »Ihr Freund wird die Treppe nicht heraufkommen, um Ihnen zu helfen. Sie können einen Schuss abgeben, stimmt, aber nicht so schnell, dass ich nicht ebenfalls schießen könnte. Ich gehe mit dieser Flinte auf die Rotwildjagd, Sie sollten mir also glauben, dass sie mit Kugeln und nicht mit Schrot geladen ist. Vielleicht erwischen Sie mich oder Neenah, aber Sie werden auf jeden Fall mit uns sterben. Wir haben also entweder zwei
Tote, oder wir bleiben alle am Leben, und Sie können Ihren Freund holen und von hier verschwinden.«
»Den Koffer können Sie auch mitnehmen«, krächzte Cate. Alles, damit sie nicht zurückkamen.
Mit einem tiefen Atemzug stellte Mellor die entsprechenden Berechnungen an. Es stimmte, sie standen im Patt, und er würde
Weitere Kostenlose Bücher