Im Sog Des Boesen
Regel: Wenn jemand mit einem Messer bloß noch drei Meter von dir weg ist, sticht er zu. Egal, ob du eine Pistole hast oder sogar auf ihn schießt. Gehen Sie also kein Risiko ein. Die Toten wissen, wie ernst es ihr ist.«
»Aber es kann sich doch nicht nur um das Foto drehen«, sagte Francetta. »Darauf sind bloß ein paar Leute beim Ententanz zu sehen. Ist in der Nacht noch irgendwas anderes passiert? War jemand dabei, der dort nichts verloren hatte?«
Lucas runzelte die Stirn. »Keine Ahnung. Genau das möchte ich herausfinden.«
Aber er fand nichts heraus.
»Nichts«, sagte er zu Del. Sie lauschten Bob Segers »Night Moves«, während sie Heather Toms im Haus gegenüber beim Fernsehen beobachteten. Sie hatte sich einen neuen LCD-Bildschirm geleistet, vermutlich mit Geld von Siggy. »Ich reiß mir den Arsch auf und stelle die richtigen Fragen - Albert Einstein wäre stolz auf mich. Trotzdem: nichts.«
»Glaubst du, meine Falten lassen mich im grellen Licht alt aussehen?«, fragte Del Lucas.
Lucas stutzte kurz und sagte dann: »Oje, du hast dich mit O’Keefe getroffen.«
Mit übertriebener Geste und zitternder Stimme deklamierte Del: »Aus! kleines Licht!/Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild;/Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht/Sein Stündchen auf der Bühn und dann nicht mehr/ Vernommen wird; ein Märchen ist’s, erzählt/Von einem Tollen, voller Klang und Wut,/Das nichts bedeutet.«
»Scheiße«, lautete Lucas’ Kommentar.
»Die andere Frau«, sagte Del, wieder ganz der Alte. »Konzentrier dich auf die andere Frau.«
Und das tat Lucas.
Hunter Austins Unternehmen AUS/TECH befand sich in einem Gewerbegebiet nordwestlich von Minneapolis. Lucas vereinbarte einen Termin mit Ann Coates, der Leiterin der Personalabteilung, obwohl er wusste, dass Martina Trenoff, die andere Frau, nicht mehr für AUS/TECH arbeitete.
Das AUS/TECH-Gebäude war quadratisch, wurde von schmalen Rasenstreifen gesäumt und hatte einen Firmenparkplatz in Wal-Mart-Größe hinter dem Haus. Es bestand aus Betonplatten und verfügte, abgesehen von der Front, über kein einziges Fenster. Um den Eingangsbereich gruppierten sich genau wie am Personaleingang kleine Glaspaneele.
An den Seiten befanden sich in Zwanzig-Meter-Abständen rostfarbene Notausgangstüren aus Stahl, die gänzlich unbenutzt aussahen.
Da es keinerlei Besucherparkplätze gab, musste Lucas zweihundert Meter weit humpeln. Und den Stock hatte er im Büro vergessen. Verdammtes Bein.
Der Eingangsbereich von AUS/TECH war genauso schlicht gehalten wie das Äußere: blauer Teppich und helle Wände mit Schwarzweißfotos in Postergröße von ernsten Männern neben Maschinen. Die beiden nicht mehr ganz jungen Frauen am Empfang reichten Lucas ein Namensschildchen und holten Ann Coates, die ihn zu einem Besprechungszimmer führte.
Ann Coates war groß, hatte dunkles, kurz geschnittenes Haar, eine Brille mit Metallrahmen, hohe Wangenknochen und schmale Lippen, und den marineblauen Hosenanzug schien sie seiner Unauffälligkeit wegen gewählt zu haben. »Die Vizepräsidentin würde dem Gespräch gern beiwohnen«, teilte sie Lucas mit.
»Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen über Ms. Trenoff stellen«, sagte Lucas. »Sie kannten Sie doch gut, oder?«
»So gut oder schlecht wie alle andern. Tara Laughlin, die für juristische Angelegenheiten zuständige Vizepräsidentin, wird sich gleich zu uns gesellen.«
»Soso, eine Juristin.«
Die Juristin ließ sie warten; Ann Coates schien die Verzögerung zu überraschen. Als Tara Laughlin dann schließlich eintraf, nickte sie Lucas zu, setzte sich ans Kopfende des Konferenztischs und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Wie Ann Coates war sie eine große Frau mit dunklen Haaren und Brille, allerdings kostete ihr modischer, schwarz-weiß karierter Hosenanzug mit Sicherheit ein paar hundert Dollar mehr als der von Ann Coates.
Nachdem sie einen Aktenordner vor sich auf den Tisch gelegt hatte, fragte sie: »Worum genau geht es bei diesem Gespräch?«
»Ich ermittle im Mordfall Frances Austin.«
»Gilt sie denn bereits eindeutig als Mordopfer?«, fragte Tara Laughlin.
»Ja. Im Rahmen unserer Ermittlungen beschäftigen wir uns mit Menschen, die ein gespanntes Verhältnis zu den Austins gehabt haben könnten.«
»Wollen Sie die Unterhaltung aufzeichnen?«, erkundigte sich Tara Laughlin.
»Nein.« Lucas legte die Hände auf den Tisch. »Keine versteckten Mikrofone, nichts. Ich erhoffe mir lediglich ein
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